Erster KFORKosovo Force-Einsatz: „Die Menschen hatten wieder Hoffnung”
Erster KFORKosovo Force-Einsatz: „Die Menschen hatten wieder Hoffnung”
- Ort:
- Berlin
- Lesedauer:
- 4 MIN
1.000 Soldaten überqueren mit 430 Fahrzeugen am 13. Juni 1999 die kosovarische Grenze. Eine völlig neue Situation für die Soldaten. Der Verlauf des Einsatzes ist ungewiss. Einer der Soldaten ist Stabsunteroffizier Uwe Linnemann, Soldat von 1991 bis 2003. Mit der Redaktion der Bundeswehr spricht er über Herausforderungen und prägende Erlebnisse.
Herr Linnemann, was fühlen Sie, wenn Sie an den Einsatz zurückdenken?
Unbehagen. Es war etwas völlig Neues. Wir sahen einem Einsatz entgegen, den es so noch nie vorher gegeben hatte. Vorher waren es immer Blauhelmeinsätze. Es ging um Friedenssicherung. Jetzt wurden wir auf Feindkontakt bis hin zu Gefechten vorbereitet. Es war ein mulmiges Gefühl.
Sie sind 1991 in die Bundeswehr eingetreten und entschieden sich früh, sich für zwölf Jahre als Soldat zu verpflichten. Haben Sie damit gerechnet, so einen Einsatz ableisten zu müssen?
An so einen Einsatz hat definitiv keiner gedacht. In der Grundausbildung fragte man uns, ob wir an solchen Maßnahmen teilnehmen würden, aber da ging es hauptsächlich um Blauhelmeinsätze. Das war alles völlig neu und unbekannt. Wir hatten auch niemanden, den wir fragen konnten. Wir wussten nicht, was auf uns zukommt, was da eigentlich passiert. Nur aus den Erfahrungen der Amerikaner, Engländer und Franzosen konnten wir lernen. Uns war klar, dass dort nicht alles Friede, Freude, Eierkuchen war. Das war auch jedem bewusst.
Wie reagierte die Truppe darauf?
Alle waren verunsichert, was sie jetzt tun sollten, auch im privaten Bereich. Auf einmal ging es darum, Testamente zu schreiben, sich mit Lebensversicherungen zu befassen. Es stellte sich die Frage, was in einem Todesfall passiert, ob die Hinterbliebenen versorgt sind trotz vieler Zusammenkünfte in den Standorten, bei denen über die Situation informiert wurde. Zum Glück ist der schlimmste Fall nicht eingetreten.
Gab es denn Feindkontakt?
Als wir in der Nacht vom 13. auf den 14. Juni nach Prizren einmarschiert sind, gab es eine brenzlige Situation. Ein serbischer Kampfpanzer stellte sich uns in den Weg. Ein Panzer der Vorhut des Marschkonvois reagierte darauf, indem er sehr dicht auf den serbischen Panzer auffuhr. Das reichte zum Glück, dass die Serben den Weg räumten, den Panzer verließen und wir den Marsch fortsetzen konnten. In Prizren kam dann es zu einem Konflikt mit den serbischen Soldaten, deren Kaserne wir beziehen sollten. Sie hatten das Areal nicht geräumt und standen uns mit Händen an den Waffen gegenüber. Es knisterte nahezu in der Luft, man spürte die Gefahr. Eine einzelne hektische Bewegung hätte ein Feuergefecht auslösen können. Letztlich konnte alles diplomatisch geklärt werden. Allerdings mussten wir erst einmal 14 Tage auf einem Acker leben und in unseren Fahrzeugen schlafen. So waren wir jederzeit innerhalb kürzester Zeit einsatzbereit.
Welches Bild bot sich Ihnen überhaupt vor Ort?
Es gab nichts mehr, keine Infrastruktur, kein fließendes Wasser, keinen Strom. Es musste alles von Grund auf neu aufgebaut werden. Die humanitäre Hilfe hatte oberste Priorität. Wir hatten im Fernsehen Bilder gesehen, aber noch keine Ahnung von den tatsächlichen Ausmaßen. Die Menschen hatten nichts mehr. Die Stadt war gezeichnet vom Krieg. Wir haben Folterräume in den Gefängnissen entdeckt, wo sich die schlimmsten Dinge zugetragen haben müssen. Auch Massengräber haben wir gefunden. Den süßlichen Geruch der Verwesung habe ich jetzt noch in der Nase. Unsere Aufklärer mussten wir nach drei Wochen nach Hause schicken, weil sie das Entdeckte und Gesehene psychisch nicht mehr verarbeiten konnten.
Die Menschen waren froh und dankbar, dass wir da waren. Sie hatten wieder Hoffnung.
Woher haben Sie die Kraft genommen, den Einsatz durchzustehen?
Es gab auch herzliche Momente. Die Menschen waren froh und dankbar, dass wir da waren. Sie hatten wieder Hoffnung. Stück für Stück kehrte die Normalität zurück. Geschäfte konnten wieder öffnen, es gab wieder Wochenmärkte. Wir haben gesehen, dass wir etwas verändern, den Menschen zu einem besseren Leben verhelfen konnten – zu einem Leben ohne Angst. Wir haben auch die Waffen aus dem Verkehr gezogen, indem wir sie gegen Essen, Kleidung und Babybedarf tauschten. Die Menschen standen mit Schubkarren voller Waffen Schlange vor unserem Lkw. Das alles bestärkte, weiterzumachen.
Ist Ihnen einer dieser Momente besonders in Erinnerung geblieben?
Tatsächlich einige. Wie Einheimische uns zu einer Feier eingeladen haben und wir den Einsatz, das Grauen um uns herum mal für einige Stunden vergessen konnten. Besonders eingebrannt hat sich aber eine Situation, die sich bei Tetovo ereignete. Wir warteten darauf, dass wir die Grenze passieren konnten. Wir befanden uns in der Nähe des Flüchtlingslagers. Die Menschen kamen heraus, sangen und jubelten. Ein kleines Mädchen stand auf dem Tritt meines Lkw. Sie erzählte und erzählte freudig, aber ich verstand sie natürlich nicht. Unser persönlicher Proviant bestand zum Teil auch aus Süßigkeiten. Also gab ich ihr eine Tüte Weingummi. Sie weinte, fiel mir um den Hals und sagte in gebrochenem Deutsch: „Maria beschütze dich.“ Da wusste ich, es ist wichtig und richtig, was wir machen. Und ihre Segenswünsche haben geholfen. Wir sind gesund nach Hause gekommen.