Erste Auszeichnung vor 15 Jahren

Ehrenkreuz für Tapferkeit: Zwei Träger berichten

Ehrenkreuz für Tapferkeit: Zwei Träger berichten

Datum:
Ort:
Berlin
Lesedauer:
8 MIN

Der Afghanistaneinsatz der Bundeswehr von 2001 bis 2021 veränderte die Leben vieler Soldatinnen und Soldaten – so auch die von Jan Wilhelm B. und Henry L. Die Fallschirmjäger erhielten 2009 als erste Soldaten das Ehrenkreuz für Tapferkeit, weil sie nach einem Anschlag Erste Hilfe geleistet hatten. 15 Jahre später erzählen sie ihre Geschichte.

Zwei Soldaten stehen im Ehrenmal der Bundeswehr. Vor ihnen liegen drei Blumengestecke.

Moment der Andacht: Die Fallschirmjäger B. und L. 2018 am Ehrenmal der Bundeswehr in Berlin. Acht Jahre zuvor hatten sie vergeblich versucht, zwei Kameraden nach einem Selbstmordattentat zu retten.

Bundeswehr/Jana Neumann

Auf den Bildern vom Sommer 2018 stehen Hauptfeldwebel Jan Wilhelm B. und Oberleutnant Henry L. am Ehrenmal der Bundeswehr in Berlin nebeneinander. Beide ziemlich groß, beide Fallschirmjäger, beide Träger des Ehrenkreuzes der Bundeswehr für Tapferkeit. Im Juli 2009 gehörten die Männer zusammen mit ihren Kameraden Oberfeldwebel Markus G. und Hauptfeldwebel Alexander D. zu den ersten Soldaten der Bundeswehr überhaupt, denen diese Auszeichnung verliehen wurde. Die Fotos von damals lassen ein wenig erahnen, dass B. und L. nicht gewohnt sind, offiziell fotografiert zu werden. Ihre bordeauxroten Barette haben die Soldaten am Eingang des Ehrenmals kurz abgezogen. Eine Geste des Respekts.

Als die Bundeswehr lernte, als Einsatzarmee zu bestehen

Vielleicht denken sie gerade an ihre Kameraden Stabsunteroffizier Patrick B. und Stabsgefreiter Roman S., Fallschirmjäger aus Zweibrücken wie sie. Gefallen am 20. Oktober 2008 im Dorf Haji Amanullah südlich von Kundus. Gefallen zu einer Zeit, als offiziell weder von Krieg noch von Gefallenen gesprochen wurde. Die Namen der Toten sind im Buch der Erinnerung verewigt. 

Aber auch L. und B. wurden an diesem Tag Teil der Erinnerungskultur der Bundeswehr. Einer Armee, die seinerzeit in Afghanistan erst lernte, was es heißt, Einsatzarmee zu sein. Seither hat sich die Welt weitergedreht. Der Einsatz in Afghanistan ist Geschichte. L. und B. sind inzwischen zum Hauptmann und zum Oberstabsfeldwebel aufgestiegen. Auch ihre Kameraden G. und D. wurden befördert. Nur für die Gefallenen ist die Zeit im Oktober 2008 für immer stehengeblieben.

Der Anschlag auf die Fallschirmjäger in Haji Amanullah war eines von vielen Ereignissen einer stetig eskalierenden Lage im Distrikt Char Darah. Im Herbst 2008 taucht die Gegend in deutschen Medien immer häufiger als „Unruheprovinz“ auf. Auch das Dorf Isa Khel befindet sich dort, das anderthalb Jahre später im Zusammenhang mit dem Karfreitagsgefecht Bekanntheit erlangen sollte. Aber die mediale Aufmerksamkeit ist flüchtig. Die Namen der staubigen Ortschaften verschwinden schnell aus dem deutschen Bewusstsein. Für B. und L. ist das anders. Damals, im Sommer und Herbst 2008, haben sie drei Kameraden verloren. Ein weiterer erlag ein Jahr später den Anschlagsfolgen. Mehr als ein Dutzend Schwerverwundeter gab es im Fallschirmjägerbataillon 263. Kein Einsatzverband der Bundeswehr musste vorher derart schwere Verluste hinnehmen.

2008 – Blutiges Jahr für die Fallschirmjäger

B. und L. erfahren Ende August 2008 vom Tod ihres Freundes Hauptfeldwebel Mischa M., dessen Geländewagen Wolf die Taliban mit einem versteckten Sprengsatz in die Luft gejagt hatten. Viel Zeit zum Trauern bleibt ihnen nicht. Nur Tage später werden Teile des Fallschirmspezialzugs, dem beide Soldaten angehören, und weitere Kräfte des Bataillons als Verstärkung nach Afghanistan befohlen. „Wir wurden ad hoc reingeholt. Keiner wusste, was ihn erwartet“, sagt B. heute. „Die Situation am Hangar in Kundus war gespenstisch. Wir steigen aus dem Flieger und unsere Verwundeten steigen mit hängenden Köpfen ein. Das war krass.“ Vor Ort bauen die Männer auf ihre gründliche Ausbildung und den Zusammenhalt der Truppe. „Wir hatten ein sehr gutes internes Gefüge im Fallschirmspezialzug“, sagt L. „Und das PRTProvincial Reconstruction Team-Team mit Oberst Rainer B. einen energischen Kommandeur. Das war hilfreich.“ Einerseits. Und dann gibt es andererseits unklare Fronten mit einem verdeckt agierenden Gegner. Misstrauen gegenüber den einheimischen Sicherheitskräften, inadäquates Material und das Gefühl, mit einer Hand auf dem Rücken zu kämpfen.

„Nach einigen Tagen Einweisung fuhren wir meist Patrouille und Spähtrupp. Oft nachts“, sagt B. „Unser Auftrag lautete, Schaden vom PRTProvincial Reconstruction Team abzuwenden“, ergänzt L. „Also haben wir Waffendepots und Abschussrampen für Raketen aufgespürt und Alarmposten der Taliban hochgenommen. Nach ein paar Wochen waren wir mit dem Gelände vertraut.“ Dann kam der 20. Oktober. „Unser längster Tag“, sagt L. An diesem Tag läuft eine lange geplante Operation gegen Bombenbauer im Distrikt Char Darah an. „Von den Einheimischen wussten wir, dass sich so ein Trupp in Haji Amanullah versteckt. Ihr Anführer war ein Lehrer“, erinnert sich B. und streicht eine widerspenstige Haarsträhne zurück. „Von uns war alles dabei, was ein Gewehr tragen konnte. Dazu afghanische Sicherheitskräfte und deren Geheimdienst.“
 

Eine Fallschirmjäger-Patrouille mit Transportwagen Mungo in Kundus

Fallschirmjäger sichern im Unruhedistrikt Char Darah Anfang Oktober 2008: Wenige Wochen später starben dort zwei Soldaten aus dem Saarland und fünf afghanische Kinder durch einen Selbstmordattentäter.

picture-alliance/dpa/Maurizio Gambarini

Unerfüllbarer Auftrag bei Operation in Char Darah

Sieben Männer des Fallschirmspezialzuges und ein einheimischer Dolmetscher beziehen mitten in der Nacht Posten an einer Kreuzung nahe dem Dorf. Ihr Auftrag: „Straße dicht machen, keinen durchlassen“, sagt L. und lächelt bitter. Denn der Auftrag war unerfüllbar. Bei Anbruch des Tages beginnen sich die eigenen Kräfte von Gehöft zu Gehöft durch das Dorf zu arbeiten. Aber dieser Montag war auch ein Markttag, also strömen bald Menschen aus Haji Amanullah heraus. Dutzende laufen an den Fallschirmjägern vorbei. Bauern oder Rebellen? Keiner weiß es. „Wir konnten nichts tun, als stichprobenartig zu kontrollieren. Wir fühlten uns hilflos und frustriert“, sagt L. Dann kommt über Funk die Meldung, dass eine improvisierte Sprengfalle, eine IEDImprovised Explosive Device, gefunden wurde. Immerhin ein erster Erfolg.

Oberstabsfeldwebel Jan Wilhelm B:, Fallschirmjäger
Dann hörten wir über Funk: IEDImprovised Explosive Device-Anschlag bei Hightower.

„Und plötzlich war da der Knall.“ Von den Soldaten getrennt durch Gräben und Felder steigt in etwa 600 bis 700 Metern Entfernung Rauch auf. War es die kontrollierte Sprengung des Sprengsatzes? „Keiner wusste was“, sagt B. „Dann hörten wir über Funk: IEDImprovised Explosive Device-Anschlag bei Hightower. Nach ein paar Minuten entschlossen wir uns, hinzufahren.“ Neben L. und B. fahren ihre beiden Kameraden G. und D. „Als Combat First Responder hatten wir eine fortgeschrittene Sanitäter-Ausbildung und wollten sehen, ob jemandem zu helfen ist“, so B.

In der allgemeinen Konfusion verfährt sich der Trupp erst einmal, am Ort des Geschehens steht ein leichtgepanzertes  Einsatzfahrzeug Mungo in Flammen, ringsum krachen Detonationen. Die Männer sehen einen ihrer Kameraden und mehrere Kinder reglos am Fahrzeug liegen, die übrigen Deutschen sichern hinter einer flachen Lehmmauer. „Wir dachten zuerst, dass wir unter Beschuss liegen“, erinnert sich B. In Wirklichkeit explodiert die Kampfbeladung mit 40-Millimeter-Munition im Mungo. Aber das wissen sie in diesem Moment nicht. Gedeckt arbeiten sich die vier Männer durch einen Graben an das brennende Fahrzeug heran und müssen wegen der Explosionen doch wieder zurück.

Mit erprobter Routine gegen die Angst

Angst? „Wahrscheinlich. Aber wir hatten keine Zeit zum Nachdenken. Schließlich haben wir den Geländewagen Wolf nachgezogen und in dessen Schutz den Kameraden geborgen“, sagt L. Es ist Patrick B. „Wir haben ihm seine Ausrüstung vom Leib geschnitten und mit Erster Hilfe begonnen.“ Vergeblich. Auch der kurz darauf eintreffende Bewegliche Arzttrupp kann nichts mehr für den Stabsunteroffizier tun. Nach der ersten Erschütterung greift die Routine. Ohne viele Worte teilen sich die vier Fallschirmjäger in die Aufgaben. G. kümmert sich um den Nineliner, eine standardisierte Meldung für die Evakuierung der Verwundeten durch deutsche Transporthubschrauber CH-53. D. übernimmt die Kommunikation, B. und L. ziehen die Kinder in Deckung.

„Links und rechts eines, die waren so leicht. Die haben nichts gewogen“, erinnert sich L. „Ich habe noch versucht, einen Jungen mit Schädel-Hirn-Trauma zu beatmen. Hat aber nichts mehr gebracht, der Kleine ist mir unter den Händen gestorben“, sagt B. Fünf afghanische Kinder sterben bei dem Anschlag, ein Mädchen von etwa acht Jahren überlebt dank der Deutschen. „Die Kleine war völlig panisch, hat die ganze Zeit geschrien und geweint. Sie hatte Gesichtsverletzungen und einen offenen Bruch am Bein.“ Der Hubschrauber bringt das Kind und einen verwundeten Deutschen ins Camp.

Einsatz rettet afghanischem Mädchen das Leben

Die Männer arbeiten wie Roboter, Checklisten und Routineabläufe, Minuten wie Stunden, das Zeitgefühl löst sich auf. Als das Mädchen versorgt ist, plötzlich die Frage: Wo ist Roman? Roman ist nicht da! Unter B.s Führung checkt ein Trupp das Umfeld des Mungos. Auch PRTProvincial Reconstruction Team-Kommandeur Oberst B. geht mit, Tränen in den Augen. Die Flammen sind mittlerweile niedergebrannt. Und dann finden sie den Leichnam ihres Kameraden. Er ist der zweite Tote der Bundeswehr an diesem Tag und der dritte Tote des Bataillons in weniger als zwei Monaten.

Die Rückfahrt erfolgt in zwei Konvois. Im Lager platzen fast die Handys, die Schreckensnachricht hat schon die Runde gemacht. Was folgt, zieht wie ein Film vorbei. Totenwache, Gespräche mit Psychologen, letztes Geleit. Eine Woche später sind die Männer wieder im regulären Dienst, sie bleiben bis zum Jahresende. „Die Kampfgemeinschaft hat uns die Therapie erspart“, sagt L. heute. Im Frühjahr erfahren die vier Fallschirmjäger, dass sie für das Ehrenkreuz für Tapferkeit vorgeschlagen wurden. „Dass etwas unterwegs war“, wie L. sagt. Eine Überraschung? Auf jeden Fall, sagen die beiden unisono.

Angela Merkel befestigt das Ehrenkreuz der Bundeswehr für Tapferkeit an der Jacke eines Soldaten

Die damalige Bundeskanzlerin Angela Merkel verleiht Fallschirmjäger L. das Ehrenkreuz der Bundeswehr für Tapferkeit. Für den mutigen Versuch, unter großer Gefahr Leben zu retten, wurden im Juli 2009 erstmals vier Fallschirmjäger ausgezeichnet.

Bundeswehr/Andrea Bienert

„Andere hätten das auch gemacht“

Nach der Verleihung durch Bundeskanzlerin Angela Merkel gibt es einen ziemlichen Pressetrubel. Wochenlang geht das so. Und der eigene Blick auf das Ehrenkreuz für Tapferkeit? „Wir sind stolz auf die Auszeichnung“, sagt L. und schaut zu B. Der nickt. „Gleichzeitig denke ich, dass viele andere das auch gemacht hätten. Sie waren an diesem Tag eben nur nicht dort.“ B. hat eine Weile an die Wand gestarrt. Langsam dreht er den Kopf: „Stolz ja. Wir haben uns nichts vorzuwerfen für diesen Tag. Aber zwei Mann sind tot. Das vergisst man nie.“

Zu Hause gab es später viel Zuspruch und ehrliche Anerkennung von Kameradinnen und Kameraden. Aber auch Neid und Missgunst. „Ich finde es gut, dass es eine Auszeichnung für Bewährung im Einsatz gibt“, sagt L. Aber was ist Tapferkeit? Mut? Was ein soldatisches Vorbild? „Ich glaube, dazu braucht es mehr als bloß eine Momentaufnahme“, fährt er fort. „Ich habe dort drillmäßig gehandelt und an die Jungs gedacht. Aber nicht an den Eid, den ich zur Vereidigung geschworen habe. Ich sehe mich nicht als Held.“

von Markus Tiedke

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