Urbane Operationen: Schlüsselfunktion Truppführer – der Stabsgefreite als Entscheider
Urbane Operationen: Schlüsselfunktion Truppführer – der Stabsgefreite als Entscheider
- Datum:
- Ort:
- Gardelegen
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Mehr als 50 Prozent der Weltbevölkerung leben in Städten. Auch internationale Einsätze zur Krisenbewältigung beinhalten nahezu immer militärische Operationen im urbanen Raum. Eine komplexe und gefährliche Aufgabe. Sie stellt hohe Anforderungen an Ausbildung und Umsicht der beteiligten Soldaten, und zwar bereits auf Mannschaftsebene.
Ob in der Antike, zur Zeit der Kreuzzüge oder in den Weltkriegen des 20. Jahrhunderts: Konflikte in und um Städte waren immer Bestandteil kriegerischer Auseinandersetzungen. Doch der Kampf von Haus zu Haus, wie er die Eroberungen von Städten in vergangenen Frontenkriegen prägte, ist heute nur ein Aspekt urbaner Operationen.
„Früher war die ganze Stadt ein großangelegtes Gefechtsfeld. Oder einfach gesagt: Überall war Krieg. Heute wechseln die Intensitäten. Humanitäre Hilfe für Flüchtlinge in einem Stadtteil, Verhandlungen mit dem Bürgermeister in einem anderen, und dazwischen ein stark umkämpfter Häuserblock. Urbane Operationen sind alles gleichzeitig“, erläutert Oberstleutnant René Braun die Komplexität des Orts- und Häuserkampfes in heutigen Kriegs- und Krisengebieten. Er ist Leiter Ausbildungsdienst am Gefechtsübungszentrum Heer in Gardelegen in Sachsen-Anhalt nördlich von Magdeburg.
Konfliktherd Stadt: Ein Prozent können eine Armee sein
Missionen zur Friedenswahrung und Konfliktbewältigung, die internationale Streitkräfte im Auftrag von NATONorth Atlantic Treaty Organization, Europäischer Union oder Vereinten Nationen durchführen, finden immer auch in Städten und urbanen Ballungsräumen statt. In Afrika haben beispielsweise 50 Städte mindestens eine Million Einwohner, 15 davon vier Millionen oder zwei sogar 15 Millionen.
„Wenn nur ein Prozent einer Stadtbevölkerung von 15 Millionen den internationalen Streitkräften feindlich gegenübersteht, wären das 150.000 potenzielle Gegner. Das sind so viele Menschen, wie in Heidelberg oder in Regensburg leben – oder ein Großteil der Bundeswehr. Und ein einziger Selbstmordattentäter kann unzählige Menschen in den Tod reißen, Soldatinnen und Soldaten ebenso wie die zivile Bevölkerung“, veranschaulicht der Ausbildungsleiter die Gefährdungslage bei urbanen Operationen.
Urbane Operationen: Unübersichtlich und komplex
Doch nicht nur die Gefährdungslage ist in Städten erhöht. Militärische Operationen in urbanen Umfeld sind komplex und oft unübersichtlich. Oft ist ein häufiger Wechsel zwischen Kampfhandlungen und Reorganisation der Kräfte erforderlich, um erkundete Gebäude oder Straßenzüge für nachfolgende Einheiten zu sichern.
In engen Innenstädten können zudem eigene Waffen – ob Panzer oder Gewehr – aufgrund der geringen Kampfentfernung nicht mit voller Wirksamkeit eingesetzt werden. Zudem besteht immer die Gefahr, versehentlich die eigene Truppe zu beschießen. Hinzu kommt: Funkverbindungen können im bebauten Gelände schnell abreißen, Sichtverbindungen gibt es häufig gar nicht. Und völlig unvermittelt ist dann ein Trupp auf sich allein gestellt.
Keine dieser Herausforderungen urbaner Operationen ist eine Entwicklung der vergangenen Jahrzehnte. Doch es sind weitere hinzugekommen, so Braun: Die 360-Grad-Bedrohung – „Nie zuvor war es so einfach, eine Drohne zu bedienen“ –, die Möglichkeit, mittels gezielter Fehlinformationen über Online-Medien Menschenmassen in Unruhe zu versetzen, und generell die Gefahr, dass per Handy binnen kürzester Zeit feindliche Kräfte mobilisiert oder an bestimmten Orten versammelt werden können.
Zudem stellt sich bei jedem Menschen, auf den eine Soldatin oder ein Soldat trifft, die Frage, ob er Freund, Feind oder neutral ist. Jede Fehleinschätzung kann dabei tödliche Folgen haben.
Truppführer: Stabsgefreite in Schlüsselfunktion
Heutige urbane Operationen zur Krisenprävention und Konfliktbewältigung stellen jede Soldatin und jeden Soldaten vor veränderte, komplexere Anforderungen. Nicht nur Offiziere und Feldwebel, sondern insbesondere auch die Ebene der Mannschaften. „Entscheidungen, die früher ein Gruppenführer getroffen hat, liegen heute beim Truppführer: Welche Waffe nutze ich? Wo sichere ich? Wie halte ich Verbindung?“, erklärt der Oberstleutnant.
Das Ergebnis: Stabsgefreite und Oberstabsgefreite übernehmen bei Einsätzen in urbanem Umfeld Verantwortung für Mensch und Material. Braun: „Mannschaftdienstgrade führen nicht nur Befehle aus. Bei urbanen Operationen müssen sie eigene Entscheidungen treffen – mit möglicherweise einschneidenden Konsequenzen nicht nur für ihren Trupp, sondern für den Erfolg der gesamten Operation.“
Früher habe zudem der ungeleitete Feuerkampf am Ende der Eskalationskette gestanden. Geschossen wurde nur auf Befehl. Heute könne jeder MG-Schütze zum strategischen Schützen werden und müsse dann selbst über den Feuerkampf entscheiden – spätestens dann, wenn sein Straßenzug das Einfalltor für einen Angriff feindlicher Kräfte werde, so Braun.
Erweiterte infanteristische Ausbildung erforderlich
Diese veränderten Anforderungen erfordern ein erweitertes Training, das über die reguläre infanteristische Grundausbildung hinausgeht. Braun: „Vor 25 Jahren war die Sicherung von Treppenhäusern Spezialkräften vorbehalten. Heute lernt jeder Panzergrenadierzug den Kampf von Raum zu Raum, Stockwerk zu Stockwerk – mit Pistole, Gewehr, Handgranate und Rammbock.“
Auf heimischen Übungsplätzen ist es jedoch oft nur eingeschränkt möglich, im Häuserkampf auszubilden. Am Gefechtsübungszentrum bietet die Übungsstadt Schnöggersburg dagegen ideale Bedingungen, um typische Elemente militärischer Operationen im urbanen Raum auszubilden.
Schnöggersburg bildet einen vollständigen urbanen Ballungsraum ab: über 500 Gebäude, angeordnet in Alt- und Neustadt, Hochhaussiedlung und Elendsviertel, ergänzt durch Industrieanlagen und Landwirtschaft, Flughafen, Bahnhof, U-Bahn-Tunnel und Kanalisation. Mit Hilfe des Ausbildungsverbandes von 860 Soldatinnen und Soldaten sowie zivilen Rollenspielern kann nahezu jedes Szenario geübt werden, vom intensiven Gefecht mit 360-Grad-Bedrohung bis hin zum humanitären Einsatz im Elendsviertel, bei dem sich Gefährder unter schutz- und hilfebedürftige Zivilisten mischen.
Häuserkampf: Ausbildung ab Kompanieebene am GÜZ möglich
Am Gefechtsübungszentrum in Gardelegen finden in erster Linie Kohäsionsausbildungen für verstärkte Kampftruppenbataillone oder Einsatzverbände statt. Verschiedene Einheiten – Kampfkompanien, Fernmelder, Pioniere, aber auch Logistiker und Sanitäter – werden hier gemeinsam auf Auslandseinsätze vorbereitet.
„Die gezielte Wiederholungsausbildung im Häuserkampf ist am GÜZ jedoch bereits ab Kompanieebene möglich“, sagt Braun. „Für eine bestmögliche Einsatzvorbereitung selbstständiger Soldatinnen und Soldaten, die sich der Tragweite ihrer Einzelentscheidungen bei militärischen Operationen im urbanen Raum bewusst sind und diese auch kompetent treffen können.''