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Der ukrainische Patient

Der ukrainische Patient

Datum:
Ort:
Berlin
Lesedauer:
6 MIN

Deutschland leistet humanitäre Hilfe im Osten Europas. Fachärzte der Bundeswehr geben verwundeten ukrainischen Soldaten wieder ein Stück Hoffnung zurück. Einer von ihnen ist Viktor Andriichuk.

Ein Mann mit einer Armprothese sitzt auf einem Krankenhausbett und lächelt in die Kamera

Viktors linker Unterarm ist eine Roboterprothese. Sie kann kleinste Muskelregungen im Armstumpf in Greifbewegungen umrechnen.

Bundeswehr/Torsten Kraatz

Viktor Andriichuck steht in seinem Zimmer im Bundeswehrkrankenhaus Berlin und versucht angestrengt, seinen Schrank zu öffnen. Verlegen fragt er um Hilfe. Er will unbedingt etwas zeigen. Mit dem gesunden Arm greift er schließlich in eine Schublade und holt seinen Besitz hervor: glänzende Orden und Spangen. Auszeichnungen, die er für den Einsatz 2015 im Krieg gegen Russland bekommen hat. Bezahlt hat er dafür mit seinem linken Arm und einem zertrümmerten Oberschenkel.

„Ich war bei den Protesten auf dem Maidan dabei und habe in der Ostukraine gekämpft“, erzählt Viktor. Dass er noch am Leben ist, verdankt er resoluten Chirurgen, die im Donbass früher Arbeitsunfälle von Bergarbeitern versorgten. Heute wird in der Bergbauregion kaum noch Kohle gefördert. Dafür werden Stellungen gegraben, für Artilleriegeschütze und Maschinengewehre. Seit dem Einmarsch Russlands auf der Krim im Februar 2014 befindet sich die Ukraine im Krieg mit ihrem Nachbarn. Das Land ist tief gespalten in ein prowestliches und ein prorussisches Lager. Seit der Annexion der Krim hat sich der Krieg in den Osten der Ukraine verlagert. Die Regierungstruppen kämpfen im Donbass gegen Separatisten, die von Russland unterstützt werden.

20 Jahre jung war Viktor Andriichuk gerade, als er auf dem Maidan-Platz in Kiew gegen Korruption und für Demokratie protestierte. Das war Anfang 2014. Keine zwei Jahre später wurde er im Krieg verwundet. Wenn der kleine, humpelnde Mann von seiner Verwundung erzählt, weicht sein trauriger Blick einem gewissen Stolz. „Über 90 Tage habe ich in der Siedlung Spartak am Flughafen Donezk gekämpft. Ich war in über 100 Gefechte verwickelt. Irgendwann wurden die Einheiten der Separatisten von russischen Elitekämpfern abgelöst. Dann wurde ich von einem Geschoss getroffen.“

Ein langer Weg

Der ukrainische Patient redet mit dem Pflegepersonal im Bundeswehrkrankenhaus offen über seine Erfahrungen und sein Land. Ob sie stimmen, ist schwer zu sagen. Dass Viktor von der Bundeswehr in Berlin versorgt wird, liegt an einem deutsch-ukrainischen Patientenprogramm. Seit 2014 wurden 139 Verwundete zur Behandlung nach Deutschland geflogen. Mittlerweile sind es keine akuten Fälle mehr, sondern vor allem Langzeitverletzte.

Viktor gehört mit über 75 Operationen in diese Kategorie. Nachdem Granaten seinen Körper halb zerfetzten, wird er in verschiedenen Feldlazaretten und Krankenhäusern notdürftig versorgt. Multiresistente Keime befallen seinen Körper und lassen seine Verwundungen nicht richtig heilen. Sein zertrümmerter Oberschenkelknochen ist gekrümmt und wächst schief wieder zusammen. Die Aufnahme in das Patientenprogramm letztes Jahr im Oktober gibt ihm die Möglichkeit, wieder ein Stück Lebensqualität zurückzugewinnen.

Ein Bundeswehr-Arzt im Porträt
Dennis Vogt Bundeswehr/Torsten Kraatz
Über 30 Patienten habe ich in den letzten sechs Jahren behandelt.

Dafür sorgt Oberfeldarzt Dennis Vogt. Der Unfallchirurg war im Oktober 2020 Teil des Erkundungsteams, das die Patienten für das Programm ausgesucht hat. Dazu fuhren sie nach Kiew in das zentrale Militärkrankenhaus und sorgten dafür, dass insbesondere die komplizierten Fälle nach Deutschland kommen. Darunter auch Viktor, der zusammen mit sechs weiteren Ukrainern durch das Patient Evacuation Coordination Centre beim Kommando Sanitätsdienst in Koblenz nach Deutschland durch die Luftwaffe transportiert wird.

„Über 30 Patienten habe ich in den letzten sechs Jahren behandelt“, sagt Vogt. Zusammen mit einem interdisziplinären Team und Expertinnen und Experten des Unfallkrankenhauses Berlin nimmt sich der 46-Jährige die Zeit, die seine ukrainischen Kollegen nicht haben, um die Behandlung mit Langzeitpatienten anzugehen.

Nahaufnahme von einem Bundeswehr-Arzt mit Lupenbrille während einer Operation

Oberfeldarzt Dennis Vogt operierte Viktor Andriichuck am offenen Bein. Bei der OP trägt Vogt eine Lupenbrille.

Bundeswehr/Torsten Kraatz
Mehrere Personen in OP-Kleidung im Operationssaal während einer Knieoperation

Der zertrümmerte Oberschenkelknochen von Viktor Andriichuk ist gekrümmt und wächst schief wieder zusammen

Bundeswehr/Torsten Kraatz

Der Feind im Körper

Viktors Fall ist kompliziert: Neben den sichtbaren Verletzungen ist er auch seelisch verwundet. Er hat PTBSPosttraumatische Belastungsstörung, seine Erlebnisse haben ihn traumatisiert. An Weihnachten hatte er einen Nervenzusammenbruch, der den Operationsplan verzögerte. „Viktor hat jetzt mehrere Aufenthalte in Deutschland hinter sich. Manche Verfahren brauchen einfach Zeit“, sagt Vogt, „doch als er nach Weihnachten zurückkam, mussten wir uns erst um die PTBSPosttraumatische Belastungsstörung-Erkrankung kümmern.“

Viktor hatte Glück: Das Bundeswehrkrankenhaus Berlin hat eine erfahrene psychotraumatologische Abteilung, die sich normalerweise mit PTBSPosttraumatische Belastungsstörung-Fällen bei deutschen Soldatinnen und Soldaten beschäftigt. Mit ihrer Hilfe konnte Viktor Ende März wieder operiert werden. Unterstützung erhält er dazu aus der ukrainischen Community in Deutschland. Sie haben ihm Sprechstunden mit einem ukrainischen Psychologen organisiert.

Ein Mann mit einer Armprothese sitzt auf einem Krankenhausbett und lächelt in die Kamera
Viktor Andriichuck Bundeswehr/Torsten Kraatz
Ich will Programmierer werden und auch solche Arme programmieren können.

Oberfeldarzt Vogt ist froh, dass im Bundeswehrkrankenhaus Berlin die Wege zu anderen Fachabteilungen kurz sind. Bei der Bekämpfung des multiresistenten Keims in Viktors Körper arbeitet er eng mit der mikrobiologischen Abteilung zusammen. „Erst nach der Infekttherapie können wir uns um die komplexe Oberschenkelsituation kümmern.“ Für Viktor heißt das: weitere Operationen.

Die Angleichung ist ein langwieriger Prozess. Erst muss der Knochen in der Achse gedreht und dann gestreckt werden: Am Ende geht es darum, drei Zentimeter Beinlänge zurückzugewinnen. Wenige Zentimeter, die lange Krankenhausaufenthalte weit weg von der Heimat nach sich ziehen. Aber auch ein Zeichen des Vertrauens in die Fähigkeiten der Bundeswehrärzte. Viktor schöpft Hoffnung. Vor einer Operation hat er gesagt, dass er Programmieren lernen möchte. Sein verlorener Arm ist durch eine Roboterprothese ersetzt. „Ich hoffe, wenn hier alles vorbei ist, auch solche Arme programmieren zu können“, sagt er und greift mit seiner Prothese nach einem Glas. Die nächsten Eingriffe sollen ihn aber erst mal wieder ermöglichen, humpelfrei zu gehen.

Ein Bundeswehr-Arzt im Profil vor einem Bildschirm, auf dem ein 3D-Modell von einem menschlichen Beinskelett zu sehen ist

Die Ärztinnen und Ärzte setzen modernste bildgebende Verfahren zur Behandlung von Viktor ein. Am Computer plant Unfallchirurg Vogt die Operation.

Bundeswehr/Torsten Kraatz

Behutsam wachsen

Die Herausforderung für Vogt: Viktors deformierten Oberschenkelknochen so zu stabilisieren, dass neues Knochenmaterial ohne Infektion nachwächst. Vogt hat dafür Metallstifte quer durch den Knochen des Patienten gesetzt, um mit einer äußeren Fixiereinrichtung den Oberschenkelknochen jeden Tag millimeterweise zu strecken – bis Viktors Beine wieder gleich lang sind.

Bei einer der vorangegangenen Operationen im letzten Jahr ist der Knochen mit Bohrer und Meißel durchtrennt worden. Längs wurde zur Stabilisation noch ein Nagel durch das Knochenmark getrieben. Zur Vorbereitung hat Vogt in einem 3D-Computermodell den Oberschenkelknochen genau analysiert. „Im Zweifel hätte ich mir sogar alles mit dem 3D-Drucker ausdrucken lassen können“, sagt er.

Vogt kann stundenlang über zementierte Knochen, Verlängerungen von Beinpartien und Modellierung von Körperteilen referieren und beschreibt am Bildschirm ausführlich den umfangreichen Operationsplan. „Am Ende ist es richtiges Handwerk“, so der Knochenexperte, der seit fast 30 Jahren bei der Bundeswehr ist.

Erfahrungen sammelte er vor allem, als er zu Beginn des Afghanistaneinsatzes Einheimische operierte, die auf Sprengfallen getreten waren. „Schuss- und Explosionsverwundungen in Verbindung mit multiresistenten Keimen sind oft in militärischen Konflikten anzutreffen“, sagt Vogt. Für ihn sei die Arbeit mit den Patienten bei aller Tragik „auch eine Möglichkeit, wertvolles Wissen für die Behandlung dieser komplizierten Fälle zu gewinnen“. Wissen, das die Bundeswehr auch für die eigenen Einsätze braucht.

Ein Bundeswehr-Arzt im Porträt
Dennis Vogt Bundeswehr/Torsten Kraatz
Ich gehe davon aus, dass wir noch jahrelang ukrainische Patienten haben werden.

Doch das ist nicht der Hauptgrund für die medizinische Hilfe. Die Bundeswehr ist im Sanitätswesen hoch spezialisiert. Sie verfügt über Technik, die es nicht in der Ukraine gibt, und unterstützt deshalb ukrainische Militärkrankenhäuser mit Gerätschaften. Aus Mitteln der Ertüchtigungsinitiative wurde 2019 Diagnosetechnik im Wert von 1,9 Millionen Euro für das zentrale Militärkrankenhaus in Kiew beschafft. Darunter auch fünf mobile Röntgengeräte.

Im letzten Jahr beliefen sich die bereitgestellten Gelder auf mehr als drei Millionen Euro. Im Ostukrainekonflikt leistet Deutschland humanitäre Hilfe und versucht, zwischen den Parteien zu vermitteln. Der Konflikt kann jederzeit wieder eskalieren. Das offizielle Waffenstillstandsabkommen wird täglich verletzt. Russland hat vor kurzem weitere Truppen an seine Landesgrenze verlegt.

Viktor würde gerne wieder seinem Land dienen: „Ich will mich irgendwie wieder nützlich machen.“ Doch erst einmal muss die Behandlung abgeschlossen werden. Dafür wird er erneut nach Berlin kommen. Für das Personal im Bundeswehrkrankenhaus Berlin ist der Konflikt in der Ukraine weit weg und doch so nah. „Ich gehe davon aus, dass wir noch jahrelang ukrainische Patienten haben werden“, sagt Vogt. Seinem Team geht es weiterhin darum, Menschen zu behandeln. Ganz gleich, woher sie kommen und wie komplex ihr Fall ist.

von Matthias Lehna

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