Soldatenleben pur: Wenn es vor dem Schießen auf den Teller regnet
Soldatenleben pur: Wenn es vor dem Schießen auf den Teller regnet
- Datum:
- Ort:
- Berlin
- Lesedauer:
- 8 MIN
Mein Grundwehrdienst liegt fast 30 Jahre zurück. Jetzt bin ich als Reservist im Schießen mit Gewehr und Pistole auf den aktuellen Stand gebracht worden. Mit der damaligen Ausbildung an der Waffe hat das neue Konzept so gut wie nichts mehr gemein.
Nein, der Begriff Kameradschaft ist nicht abgedroschen. Wie sie in der Truppe gelebt wird, habe ich jetzt erst wieder während meiner Umschulung auf das neue Schießausbildungskonzept (neues SAK) erfahren. Das gibt es zwar schon seit rund zehn Jahren. Doch für mich war es wirklich neu. Es waren fordernde zwei Wochen, die zeitweise an meiner Substanz knabberten. Mit 48 Jahren ist man schließlich kein junger Hüpfer mehr. Zumal Schutzweste, Munition und Gefechtshelm im Laufe eines langen Ausbildungstages auf der Schießbahn schwer werden können. Doch es waren für mich in erster Linie zwei Wochen Soldatenleben pur. Und das lag vor allem am kameradschaftlichen Miteinander in der bemerkenswerten Ausbildungsgruppe.
Soldatenleben pur auf dem Truppenübungsplatz
Doch der Reihe nach: Zuletzt habe ich 1993/1994 als Wehrdienstleistender an der Artillerieschule in Idar-Oberstein Waffen in die Hand bekommen: Gewehr G3 und Pistole P1 hießen die damals noch. An so etwas wie ein Schießkonzept kann ich mich nicht erinnern. Nur daran, dass wir auf den Schießbahnen immer lange herumstanden, bevor wir fünfmal schießen durften. Und daran, dass das G3 einen derben Rückstoß hatte, wenn ich es nicht fest genug in die Schulter zog.
Im Zivilleben ging es dann 27 Jahre irgendwie ohne Waffen, bevor ich im Oktober 2020 als Reservist wieder zur Bundeswehr stieß. Und da das Schießenkönnen – und eventuell Schießenmüssen – zu den Grundfertigkeiten eines Soldaten gehört, finde ich mich jetzt in der Umschulung auf das Gewehr G36 und die Pistole P8 wieder. Seite an Seite stehe ich da mit jungen Hauptgefreiten wie Florian Kramer (20), Hauptleuten wie Michael Eifler (44) und älteren Kameraden wie Oberstleutnant Andreas Walter Schmitz (56) oder Oberstabsfeldwebel Frank Gehlen (58).
Die Teilnehmenden – mit Frau Oberleutnant Aniko Ivany und Frau Hauptfeldwebel Sheila Hanschke sind auch zwei Soldatinnen dabei – kommen sämtlich aus dem Großraum Berlin/Strausberg. Mit den Oberstleutnants Hendrik Engelhardt und Oliver Baumann, den Hauptfeldwebeln Christian Schönmottel und Michael Westphal sowie Oberfähnrich Robert Zirkler steht den Umschülern und Umschülerinnen eine „luxuriöse Ausbilderdichte“ zur Verfügung, wie es Oberstleutnant Schmitz formuliert.
Schneller Zugriff auf Magazine
Die Umschulung beginnt mit viertägigen Trockenübungen – also zunächst ohne Munition: In einer kalten, leerstehenden Fahrzeughalle in der Berliner Julius-Leber-Kaserne geht es darum, uns den sicheren Umgang mit Gewehr und Pistole zu vermitteln. Zuerst jedoch müssen wir unsere persönliche Ausrüstung anpassen. Das bedeutet, die Magazintaschen an der Trageausstattung so anzuordnen, dass während des Schießens ein schneller Zugriff auf „Nachschub“ gegeben ist.
Für einen Rechtshänder heißt das: Die Magazintaschen gehören im Wesentlichen auf die linke Seite, um von dort mit der linken Hand ein volles, „schnelles“ Magazin zu greifen und nachzuladen. Nicht mehr ganz volle, „angeschossene“ Magazine wandern auf die andere Seite in die „langsamen“ Magazintaschen, am besten mit dem Boden nach unten, empfiehlt Ausbilder Oliver Baumann.
Wer etwas nicht sofort kapiert – kein Problem, die Kameraden helfen: Als ich beim Einstellen meines Gewehrriemens nicht weiterkomme, ist Oberleutnant Stefan Wieduwilt (53) zur Stelle. Mit wenigen Handgriffen zieht er den Riemen durch die Schlaufen: „So geht das. Bitteschön“, sagt er. Wenig später kann ich glänzen, indem ich ihm die Magazintaschen an den richtigen Stellen am Koppel befestige: „So muss das. Bitteschön.“ Grinsen auf beiden Seiten.
Kameraden greifen ein und helfen
Ein Schwerpunkt der Ausbildung sind verschiedene Körperhaltungen und Positionen, militärisch „Stellungen“ genannt: Über die Einsatzstellung wechseln wir auf Kommando oder Pfiff in die Patrouillenstellung, von dort in die Kontaktstellung – als letzte Eskalationsstufe vor einer Schussabgabe. Dabei soll die Waffe im 45-Grad-Winkel zum Gegner nach unten geneigt und entsichert sein. Der Oberkörper ist dabei leicht nach vorn gebeugt, um bei einer Schussabgabe den Rückstoß abzufangen. Ich habe gedanklich und motorisch so meine Schwierigkeiten, diesen Bewegungsablauf sofort korrekt auszuführen, doch meinen Kameradinnen und Kameraden geht es ähnlich.
Immer wieder greifen die Ausbilder ein, korrigieren meine Haltung. „Kamerad Borgmeier, du stehst zu breitbeinig“, kritisiert Hauptfeldwebel Schönmottel meinen John-Wayne-Stil nicht nur einmal. Ich justiere nach, der Schießlehrer gibt sich endlich zufrieden. Von Stunde zu Stunde, von Tag zu Tag aber werden wir besser. Das Nachladen beider Waffen – zunächst noch mit leeren Magazinen, die Persönliche Sicherheitskontrolle (PSK) und das Ziehen der Pistole in vier Schritten laufen immer flüssiger ab. „Wiederholung ist der größte Feind des Vergessens“, ruft uns Oberstleutnant Baumann immer mal wieder zu. Recht hat er.
Wir sind gut beraten, die vier grundlegenden Sicherheitsregeln und fünf Elemente der Schießtechnik wie Griff, Anschlag, Zielen, Atmen und Abziehen auswendig zu lernen. Denn die Ausbilder fragen sie gern unvermittelt ab. „Kamerad Fasinski: Wie lautet die zweite Sicherheitsregel?“, erwischt es den Kompaniefeldwebel, der aber wie aus der Pistole geschossen antwortet: „Die Waffe wird nie auf etwas gerichtet, das man nicht treffen will.“ Auch den Obergefreiten Lutz Kirchner trifft es: „Die vierte Sicherheitsregel?“, will Ausbilder Engelhardt wissen. „Man soll sich seines Zieles sicher sein“, entgegnet Kirchner umgehend.
Stress im „Schießkino“
Die Trockenübungen, bei denen jeder mal ins Trudeln kommt, schließen im Schießsimulator ab. Dort, auf der virtuellen Schießbahn, bekommen wir erstmals einen Eindruck vom Rückstoß der Waffen, vom Stress, der entsteht, wenn der Ausbilder ruft „Feind schießt noch!“, das Magazin aber plötzlich leer ist oder die Waffe klemmt. Der Druck, der Drill sind dabei einkalkuliert.
Ortswechsel: Truppenübungsplatz Klietz. Um 8.30 Uhr ist es dort Ende März drei Grad kalt, ein eisiger Wind zieht über die Schießbahn. Wir frieren. Aber das gehört zum Soldatenleben dazu, sage ich mir. Hauptfeldwebel Schönmottel als Leitender des Schießens teilt uns in zwei Gruppen auf. Es geht los: Munition und Waffen werden ausgegeben, die Ausbilder verlieren keine Zeit. Wir hätten schließlich ein Recht auf Ausbildung, scherzen sie. Schwer bewaffnet mit Gewehr, Pistole und endlich auch vollen Magazinen stehe ich da mit den Kameraden. Helm und Schutzweste werden die Woche zu meiner zweiten Haut.
Die Ausbilder sehen jeden Fehler
„Klar zum Gefecht!“ heißt es dann und es wird ernst: Mit der P8 soll ich eine anfangs nur fünf Meter entfernte Zielscheibe im zentralen Bereich treffen. „Kinderspiel“, denke ich mir. Doch spätestens bei einer Distanz von 15 Metern ist mein Übermut verflogen. Es ist schwer, ohne vorgespannten Hahn den ersten Schuss ins Ziel zu bringen. Dass Ausbilder Westphal mir im Nacken sitzt und jeden Fehler sieht, macht die Sache nicht leichter. Ich konzentriere mich. „Die Pistole mit beiden Händen in den festen Griff nehmen“, sage ich mir leise vor, „langsam und flüssiger in den Anschlag gehen, über Kimme und Korn zielen, entspannt atmen.“ Schließlich ziehe ich ab – und treffe. „Glück gehabt. Bestanden“, raunt Schönmottel.
Mit dem Gewehr sieht es ähnlich aus. Je mehr ich übe und konzentriert die Elemente der Schießtechnik „abarbeite“, desto besser wird das Trefferbild. „Schießen lernt man nur durch Schießen“, meint Oberstabsfeldwebel Frank Gehlen lapidar, mit 58 Jahren einer der ältesten Teilnehmer.
Zwischendurch munitionieren wir unsere Magazine immer wieder auf und Spieß Christoph Fasinski versorgt uns mit Verpflegung aus der Klietzer Kaserne. In der Freiluft-Mittagspause schmeckt die heiße Nudelsuppe besonders gut, die schwere Schutzweste legen wir für die Stunde „Kampfpause“ erleichtert zur Seite.
Glanzlicht der Woche ist das Nachtschießen. Wir haben bei Regen, Kälte und Wind schon acht Stunden Training in den Knochen, als wir am späten Nachmittag auf eine andere Schießbahn wechseln. Dort warten Bunkerstellungen auf uns und in der Dunkelheit sehen wir spärlich beleuchtete Zielscheiben. Während wir bislang vorwiegend auf kurze Distanzen geschossen haben, stehen die nächsten Ziele nun in Entfernungen bis 500 Metern.
Leuchtspurgeschosse peitschen durch die Dunkelheit
Mir tun die Knochen weh, die Klamotten sind nass und der Magen knurrt, als Oberstleutnant Baumann in der Dämmerung den Ablauf des bis etwa 22 Uhr angesetzten Nachtschießens erklärt. Ich habe große Mühe, die Ziele am Horizont überhaupt ausmachen zu können. Damit stehe ich nicht alleine da.
Wir warten auf die Nacht. Die Abendverpflegung kommt. Es gibt Kartoffeln mit Rindergulasch und Rotkohl. Lecker. Wir stehen in der Dunkelheit im Regen und frieren. Dass es auf unsere Teller plätschert, stört mich kaum. Meine Gedanken sind eher bei der anstehenden Schießprüfung: Wie um Himmels Willen soll ich hier was treffen? Es ist rabenschwarz um uns herum.
Wenig später: Die Leuchtspurgeschosse peitschen durch die Nacht. Ich sehe so gut wie nichts durch das Zielfernrohr und wechsle zum Reflexvisier meines Gewehrs. In meiner Stellung ist es zappenduster. Ich liege im Dreck. Von nebenan brechen Schüsse, als würden die Kameraden aus allen Rohren feuern. Durch Lichtblitze simuliertes Maschinengewehrfeuer taucht am linken Horizont auf. Ich schieße und gucke. Stress, leeres Magazin, den Ausbilder im Nacken. „Kamerad Borgmeier, Feuer frei!“ Rechts erkenne ich plötzlich ein spärlich beleuchtetes Ziel: Sofort bekämpfe ich es. Die ersten Schüsse verfehlen es. Die Leuchtspuren meiner Projektile aber weisen mir den Weg ins Ziel – getroffen!
Basisgeschäft von Soldatinnen und Soldaten
Am Ende des viertägigen Schießens und der insgesamt zweiwöchigen Ausbildung wirken viele Teilnehmende erschöpft, aber alle sind begeistert. Ermattet stehen wir nach dem Waffenreinigen beim abschließenden Grillen am offenen Feuer. „Es hat schwer Spaß gemacht“, sagt Hauptgefreiter Steve Grosse. Und Oberleutnant Wieduwilt meint: „Für diese intensive Schießausbildung hätte manch einer viel Geld bezahlt.“ Für war das Soldatenleben pur und nach fast 30 Jahren Neuland. Die Kameradschaft, also das gegenseitige Helfen und Unterstützen, zog sich wie ein roter Faden durch die Umschulung.
Zu schießen und den Feind, den Angreifer, einen Menschen also, verletzen oder gar töten zu müssen – auch das gehört zum Berufsbild eines Soldaten, einer Soldatin. Und wer in diesem Kernbereich soldatischen Handwerks oberflächlich oder nicht richtig ausgebildet ist, der wird vom Feind getötet. So einfach ist das. Das intensive, realitätsbezogene Schießtraining hat mir dies deutlich vor Augen geführt. Ich hoffe, nie in eine solche Situation zu kommen.