Die Logistik des Abzugs
Die Logistik des Abzugs
- Datum:
- Ort:
- Afghanistan
- Lesedauer:
- 4 MIN
Nach fast 20 Jahren verlässt die Bundeswehr Afghanistan. Neben den Truppen muss nun auch viel Material zurück nach Deutschland. Ein logistischer Kraftakt, der jedoch bestens vorbereitet ist.
Sein Auto hat der deutsche Kontingentführer in Afghanistan persönlich abgegeben. Brigadegeneral Ansgar Meyer trennt sich seit Monaten von allem Material, das die Bundeswehr in Masar-i Scharif nicht mehr zwingend benötigt. Dafür hat Meyer bereits im Dezember 2020 den Fuhrpark im Camp Marmal verkleinert. „Wir gehen durch das Kontingent und schauen, welche Aufgaben jetzt anstehen“, erklärte der Brigadegeneral damals. Sein Ziel schon damals: Vorausschauend das Kontingent auf den Kernauftrag zu komprimieren.
Am 14. April 2021 fiel dann bei einem Treffen der NATONorth Atlantic Treaty Organization-Außen- und Verteidigungsminister die Entscheidung, alle internationalen Kräfte bis zum 11. September dieses Jahres abzuziehen. Zurzeit gehen die Überlegungen im Hauptquartier von Resolute Support in Kabul in die Richtung, den Abzugszeitraum zu verkürzen. Auch der 4. Juli wird als Abzugsdatum erwogen. Im Bündnis gilt das Motto: gemeinsam rein, gemeinsam raus.
Der Einsatz wird geordnet beendet
Kontingentführer Meyer hat sich für alle Eventualitäten gewappnet. Seit Sommer 2020 ließ er dafür im Rahmen der Kontingentwechsel nicht nur Einsatzkräfte zur Sicherung und Ausbildung einfliegen, sondern auch Spezialisten aus dem Logistikbataillon 467 in Volkach. Nichtrelevantes Material wurde bereits bis Februar im Kontingent reduziert. Das vermindert nun den Gesamtumfang der anstehenden Rückverlegung.
Bis zu 150 Experten der sogenannten Rückverlege- und Verwertungsorganisation prüften seit November vergangenen Jahres, was in Afghanistan wie lange gebraucht wird und entwickelten Pläne dafür, wie die Rückverlegung ablaufen soll. Für das verbliebene Material rechnen die Logistiker mit etwa drei Monaten.
Der Einsatz in Afghanistan war der größte der Bundeswehr. Insgesamt dienten seit 2002 rund 160.000 Soldatinnen und Soldaten am Hindukusch. Zeitweise waren bis zu 5.400 Männer und Frauen gleichzeitig im Einsatz.
Der lange Weg nach Hause
Rund 50 Fahrzeuge wurden schon bis Dezember letzten Jahres nach Deutschland ausgeflogen. „Auf eine Antonow passen bis zu zehn Fahrzeuge“, sagt Oberstleutnant Dirk Bieber*. Beim Abbau des Materials gebe es drei Möglichkeiten, erklärt der Leiter vom Materialwirtschaftszentrum Einsatz der Bundeswehr aus dem norddeutschen Hesedorf: „Entweder bringen wir es zurück nach Deutschland oder es wird hier in Afghanistan verkauft oder verwertet.“
Die Rückführung umfasst viele Stationen im Camp. Unter anderem wird jedes Fahrzeug in der Materialgruppe auf Vollständigkeit geprüft. „Für einen Standard-Dingo braucht die Materialgruppe anderthalb bis zwei Stunden“, erklärt der Oberstleutnant. Wenn alle Papiere fertig sind, wird das Fahrzeug an die Materialschleuse weitergegeben. Alle Waffen und verbauten Teile werden entfernt und das Fahrzeug wird desinfiziert. „Wir sind ja hier in einem Land außerhalb der Europäischen Union und deswegen ist es Auflage, dass wir alles Material behandeln, damit wir keine Tierseuchen nach Europa einschleppen“, erklärt Bieber. Danach wird das Fahrzeug gewogen und gemessen, um die Beladung der Transportflieger zu berechnen. Im Anschluss geht es zurück in die Heimat.
Die Materialschleuse ist die logistische Drehscheibe im Camp. Wie viel Material noch in Afghanistan ist, berechnen die Spezialisten aus Hesedorf anhand sogenannter Container-Äquivalente. Noch etwa 800 Container-Äquivalente müssen zurückgeschafft werden. Ein Container-Äquivalent ist eine Berechnungsgrundlage, der zum Beispiel ein Fahrzeug oder 100 Teile Material entsprechen. Waffen, sicherheitsempfindliches Gerät, Festplatten und Kryptomaterial werden per Luft verfrachtet.
Unempfindliches Material wie Kühlcontainer oder Schwerlastregale könnte auch über Land transportiert werden. Vorgesehen ist aber der strategische Lufttransport, denn der Landweg ist sehr mühsam: Auf der mehr als 5.000 Kilometer langen Strecke müssen zahlreiche Zollkontrollpunkte und Fähren passiert werden. Die Reise per Lkw würde bis zu 40 Tage dauern.
Günstige Waren für Einheimische
1.700 Container-Äquivalente sind für die Verwertung vorgesehen: Das Material wird in Afghanistan verkauft, staatlichen Stellen übergeben oder verwertet. Die Logistiker haben als Grundsatz festgelegt, dass Material, dessen Wiederbeschaffung weniger als 5.000 Euro kostet, ausgesondert wird. Elektronik, Büro- und Duschcontainer sowie anderes überschüssiges Material werden im Camp zum Verkauf angeboten. Afghanische Firmen, die sicherheitsüberprüft sind, können darauf bieten. Viele von ihnen arbeiten mit den deutschen Kräften schon seit Langem zusammen.
Den Verkauf leitet Hauptmann André Höhe*. Er kommt vom Bundeswehr-Dienstleistungszentrum Homberg und war schon 2014 beim Ende des ISAFInternational Security Assistance Force-Einsatzes dabei. „Bei unseren Verkaufsveranstaltungen präsentieren wir die Waren in Losen, die wir vorher zusammengestellt haben“, so Höhe. Auf diese Lose können die Händler bieten. So kommen sie günstig an Waren, die sie anderswo im Land nicht kaufen können. Dabei betont der Verkaufsleiter, dass beim Verfahren strenge Regeln eingehalten werden müssen: „Die Händler dürfen sich nicht absprechen. So kommen für ein und dasselbe Los manchmal Gebote von 150 bis 1.000 Dollar zustande.“ Direkt nach der Verkaufsveranstaltung wertet ein Gremium die schriftlichen Gebote aus und erteilt dem Höchstbietenden den Zuschlag.
Und was passiert mit dem Camp, mit all seinen Gebäuden und Anlagen? „Wenn die internationalen Kräfte abziehen, geben wir das Lager zurück an seinen Besitzer, und das ist zum Großteil die Provinz von Balch“, sagt Brigadegeneral Meyer.
Höchste Priorität hat der Schutz der deutschen Soldatinnen und Soldaten und ihrer Partner. Deshalb werden die Sicherungskräfte mit niederländischen und deutschen Kräften verstärkt. Gemeinsam werden sie das Camp Marmal bis zum Schluss schützen und die Rückverlegung absichern.
*Name zum Schutz des Kameraden geändert.