Nachtschicht für das KSKKommando Spezialkräfte – Kommandosoldaten retten Zivilisten
Nachtschicht für das KSKKommando Spezialkräfte – Kommandosoldaten retten Zivilisten
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Soldaten des Kommandos Spezialkräfte (KSKKommando Spezialkräfte) bringen während der militärischen Evakuierungsoperation der Bundeswehr aus Kabul Ende August fast einhundert schutzberechtigte Personen in Sicherheit. Dazu verlassen sie des Nachts unter erheblichem Risiko das Flughafengelände und nehmen die Schutzbedürftigen an zuvor vereinbarten Treffpunkten auf.
Es ist die Nacht vom 25. auf den 26. August 2021, irgendwo in der Umgebung des Kabuler Flughafens. Noch trägt der den Namen des ehemaligen Präsidenten Afghanistans, Hamid Karsai. Seit mehr als einer Woche sind dort Dutzende Nationen fieberhaft dabei, ihre Landsleute zu evakuieren. Tagsüber belagern zehntausende Schutzsuchende das Areal. Aber des Nachts sind die Tore des Flughafens geschlossen. Dann zerstreuen sich die Menschen und sammeln in der Nähe Kraft für den nächsten Tag.
Deutsche Kommandosoldaten auf gefährlicher Mission
In aufgelockerter Formation bahnen sich einige Soldaten den Weg durch die rastenden Menschengruppen. Zügig, aber ohne Hast. Ausrüstung und Habitus lassen auf westliche Spezialkräfte schließen. Die deutsche Flagge an Helm und Brust zeigt: Es sind Soldaten des Kommandos Spezialkräfte (KSKKommando Spezialkräfte).
Das Ziel der Männer liegt vielleicht noch hundert Meter entfernt. Eine grell erleuchtete Tankstelle, die wie ein eben gelandetes Ufo aus der Dunkelheit heraussticht. Dort wollen sie ihre Schutzbefohlenen aufnehmen. Zwei junge Frauen, deren zwölfjährigen Bruder und die Mutter, alles Angehörige einer deutschen Großfamilie.
Zweimal waren die Kommandosoldaten heute Nacht bereits draußen und haben Mitglieder der Familie in den gesicherten Bereich des Flughafens gebracht. Diese vier Schutzbefohlenen sind die letzten, die vor Tagesanbruch geholt werden können. Die letzten überhaupt. Denn nur 24 Stunden später werden die Deutschen Afghanistan verlassen haben. Der Name der Mission ist also Programm: Last Call.
Nächtliche Kampflandung in Kabul
„Genau zehn Tage zuvor sind wir alarmiert worden“, sagt Oberstleutnant Tobias Richter*. „30 Stunden nach der Alarmierung waren wir in Kabul.“ Richters Team sitzt in der Nacht auf den 17. August in jenem Airbus A400M der Luftwaffe, der nach längerer Zeit des Kreisens über Kabul schließlich eine Kampflandung hinlegt. Bei miserablen Sichtverhältnissen ohne Startbahnbefeuerung und bei unklarer Gefährdungslage. Verteidigungsministerin Annegret Kramp-Karrenbauer wird später vor der Presse von einem „echten Husarenstück“ sprechen.
Allen Widrigkeiten zum Trotz bringt die Besatzung den Militärtransporter runter. Und trotz etlicher beschädigter Reifen kann der Airbus kurze Zeit später wieder Richtung Taschkent starten. Mit an Bord: die ersten sieben geretteten Zivilisten. In Kabul bleiben Richters Kommandosoldaten und ein verstärkter Fallschirmjägerzug aus Seedorf unter dem Kommando eines jungen Oberleutnants zurück.
Richter ist ein robuster Typ mit kurz geschorenen Haaren und blauen Augen. Verschnörkelte Sätze sind seine Sache nicht. In Kabul führt er das deutsche Spezialkräfteelement und ist direkt dem Kommandeur des Evakuierungsverbandes, Brigadegeneral Jens Arlt, unterstellt. Doch bis dieser am Nachmittag des 17. August im zweiten Versuch landet, hat Richter vor Ort das Sagen.
„Wir haben zuerst den stellvertretenden Botschafter und die Amerikaner kontaktiert“, sagt er. „Die waren froh, dass unsere Fallschirmjäger ihre Sicherungen verstärkt haben.“ Im Anschluss belegen die Deutschen erst einmal eines der verwaisten Gebäude, das nur wenig mehr als hundert Meter vom North Gate des Flughafens entfernt ist.
Chaos am Flughafen – das Gesicht der humanitären Krise
Nach einer kurzen Nacht beginnt die kleine Truppe – unterstützt von Botschaftsmitarbeitern und gemeinsam mit den Amerikanern – damit, die Registrierung von Schutzsuchenden am North Gate vorzubereiten. Außerdem schnappen sie sich ein paar verlassene, noch betriebsbereite Fahrzeuge. Um 11 Uhr wird am Flaggenmast die deutsche Fahne gehisst.
„Als der Kommandeur in Kabul eintraf, war unser Gefechtsstand einsatzbereit und der A400M konnte auf dem Rückflug gleich 120 Schutzbefohlene mitnehmen“, sagt Richter. Die Lage an den Toren ist derweil überall chaotisch und unübersichtlich. Männer, Frauen und Kinder harren bei brüllender Hitze in einer Art Sackgasse zwischen kahlen Betonwänden aus. Es geht nicht vor oder zurück. Die sanitären Verhältnisse sind erbärmlich, es stinkt zum Himmel. Am Kopfende der Sackgasse liegt das Tor. Gesichert mit Stacheldraht, bewacht von einer Postenkette, unerreichbar für die Meisten.
Szenen von Gewalt und Verzweiflung
Die westlichen Soldaten kümmern sich primär um die Identifizierung der Schutzbedürftigen. Afghanische Kräfte – oft ehemalige Angehörige der nationalen Sicherheitsorgane – versuchen derweil, so etwas wie Ordnung aufrechtzuerhalten.
Und sie sind nicht zimperlich. Droht die Menge außer Kontrolle zu geraten, schlagen sie mit Stöcken oder Gewehrkolben zu. Wenn das nicht hilft, setzt es Warnschüsse, Gummigeschosse oder Tränengas. Aber auch gezielte Schüsse durch die afghanischen Sicherheitskräfte kommen vor.
Es ist mit jedem Tag schlimmer geworden.
Die KSKKommando Spezialkräfte-Männer verlassen in der Regel im Schutze der Nacht den Flughafen, um identifizierte deutsche Staatsbürger gezielt aus der Menge zu greifen und durch Nebenschleusen aufs Flughafengelände zu bringen. Anfangs sei die Lage an den Toren kritisch und angespannt, aber gerade noch beherrschbar gewesen, sagt Richter. „Aber es ist mit jedem Tag schlimmer geworden.“
Salven aus Sturmgewehren gehören zu den gewohnten Hintergrundgeräuschen. Immer wieder gibt es Tote unter den Wartenden. Vor allem die Schwächsten haben bald keine Chance mehr, sich bemerkbar zu machen. „Frauen und Kinder wurden in den Stacheldraht gedrückt oder niedergetrampelt. Kein Mensch hat Rücksicht genommen. Dazu das ohrenbetäubende Geschrei den ganzen Tag.“ Mitunter werden sogar geraubte Kinder als „Eintrittskarten“ vorgezeigt, um die Aufmerksamkeit der Soldaten und ihr Mitgefühl zu wecken.
Eskalation belastet Angehörige des Einsatzverbandes
Die Deutschen und ihre Kameraden anderer Nationen stehen diesen Verhältnissen weitgehend machtlos gegenüber. Nach einigen Tagen sind Deutsche nicht nur am North Gate, sondern bedarfsweise auch am östlich gelegenen Abbey Gate und am South Gate im Einsatz. Die personellen Reserven sind dünn, Schlafmangel ist der ständige Begleiter aller Angehörigen des Kontingentes. Immer wieder werden schwer verletzte Menschen an der Registratur vorbeigebracht und notdürftig medizinisch versorgt. Manche müssen danach wieder zurück, weil sie keine gültigen Papiere haben.
Mitunter werden Tote geborgen. Richter selbst wird Zeuge, wie eine Frau in der Menge kollabiert und stirbt. Die rasante Eskalation der Umstände macht allen schwer zu schaffen. Auch den Kommandosoldaten. „Wir haben dort täglich in einen menschlichen Abgrund geblickt“, sagt Richter. „Auf so etwas kann einen keiner vorbereiten. Dafür finde ich bis heute keine Worte.“
KSKKommando Spezialkräfte findet Weg zur Rettung abgeschnittener Deutscher
Das KSKKommando Spezialkräfte ist auf Geiselbefreiungsoperationen spezialisiert. Aber die abgeschnittenen Deutschen in Kabul sind keine Geiseln im herkömmlichen Sinn. Eher Geiseln der besonderen Umstände. Die Kommandosoldaten müssen sich etwas einfallen lassen.
Ab dem 20. August kommt für die KSKKommando Spezialkräfte-Männer eine riskante Form des Einsatzes hinzu. Erst stellen sie Kontakt zu Deutschen her, die aus eigener Kraft nicht zum Flughafen gelangen können. Oft sind das eben Frauen, Jugendliche oder Kinder. „Zielgerichtete Evakuierung isolierter und besonders gefährdeter Personen“, nennt das Richter. „Der Gedanke, gerade die rausholen zu können, hat uns sehr motiviert.“
Mehr als zehnmal rücken seine Männer in den nächsten Nächten aus, um irgendwo in Kabul oder der näheren Umgebung des Flughafens Schutzberechtigte aufzunehmen und in Sicherheit zu bringen. „Oft zu Fuß und auch mit Hubschraubern“, sagt Richter. Am Ende haben die KSKKommando Spezialkräfte-Männer eine hohe zweistellige Zahl von deutschen Staatsbürgern gerettet. Über verschlungene Pfade bringen sie die Menschen zurück zum Flughafen. Durch Nebentore oder Kanäle, manchmal auch durch die Kanalisation.
Nicht anders läuft das bei Operation Last Call. Rund um die Tankstelle wird das Gedränge schnell dichter, Motorräder knattern an dem Trupp unter Führung eines erfahrenen Kommandofeldwebels vorbei. Dass hier westliche Soldaten auftauchen, sorgt für Aufsehen. Immer wieder werden die KSKKommando Spezialkräfte-Männer angesprochen und bedrängt. Doch sie gehen unbeirrt weiter.
Die Situation ist unübersichtlich und wird zusehends brenzliger. Schon droht die Stimmung umzuschlagen. Afghanische Männer werden laut und aggressiv. Schüsse fallen. Endlich taucht im Gewühl das Gesicht einer jungen Frau mit Kopftuch auf. Sie ist mit ihrer Familie am vereinbarten Treffpunkt, die gesuchten Landsleute sind gefunden.
Nach dem Erstkontakt bilden die Soldaten schnell einen Kreis um ihre Schutzbefohlenen und treiben Neugierige zurück. Dann treten sie den Rückmarsch zum Flughafen an. Am 26. August in der Frühe trifft die Gruppe dort ein.
Letzte Rettungsaktion kurz vor dem Abzug
Zu diesem Zeitpunkt war klar, dass der Abzug des deutschen Kontingentes unmittelbar bevorsteht. „An diesem letzten Vormittag haben wir zudem unter persönlicher Führung des Kommandozugführers noch einmal einen Glückstreffer gelandet“, erzählt Richter weiter.
Ein Dutzend Deutsche sowie deren schutzberechtigte Verwandtschaft holen die KSKKommando Spezialkräfte-Männer aus einem Abwasserkanal nahe des Abbey Gate im Südosten des Flughafens. Nur einen Steinwurf entfernt wird einige Stunden später ein Selbstmordanschlag im Gedränge weit mehr als hundert Menschenleben kosten.
Deutsche Flagge geht zur Erinnerung nach Calw
Als das passiert, sind die KSKKommando Spezialkräfte-Soldaten aus Calw mit dem übrigen Einsatzverband gerade im Begriff, in die Flugzeuge zu steigen. General Jens Arlt selbst holt kurz zuvor die deutsche Flagge nieder, die Oberstleutnant Tobias Richter und seine Männer gut eine Woche zuvor gehisst hatten. Später wird er sie den Kommandokräften überreichen – zur respektvollen Erinnerung an einen schweren Einsatz.
„Für Situationen wie in Kabul gibt es keine Schablone. Wir hatten viele operative Freiheiten und haben sie genutzt“, zieht Richter Bilanz. „Bei den nächtlichen Operationen waren wir in unserem Element und konnten Menschen retten. Das fühlt sich gut an. Wir konnten zeigen, was wir können und wozu wir da sind. Ich bin extrem stolz auf meine Männer und das Erreichte, aber ich kann mich nicht wirklich freuen. Wir alle haben dort zu viel menschliches Leid gesehen.“
Markus Tiedke ist Chefreporter der Redaktion der Bundeswehr. Für diesen Beitrag hat er intensiv recherchiert und mit Teilnehmern der Operation gesprochen. Ihre Schilderungen machten diese Reportage erst möglich.
*Namen zum Schutz der Kameraden geändert.