Im Gefecht zurück zur Handlungsfähigkeit
Im Gefecht zurück zur Handlungsfähigkeit
- Datum:
- Ort:
- Marienberg
- Lesedauer:
- 4 MIN
Psychische Überlastungsreaktionen können auch bei erfahrenen Einsatzkräften auftreten. Alle Soldatinnen und Soldaten, die für die NATONorth Atlantic Treaty Organization-Eingreiftruppe VJTFVery High Readiness Joint Task Force geplant sind, durchlaufen daher eine neue Ausbildung in psychischer Erster Hilfe: zur Sicherung der Handlungsfähigkeit und der Auftragserfüllung sowie zur Vorbeugung von psychischen Folgestörungen.
Verletzten und verwundeten Kameradinnen und Kameraden in Gefahren- und Gefechtssituation medizinische Erste Hilfe zu leisten – das ist für Soldatinnen und Soldaten selbstverständlich und Bestandteil jeder soldatischen Ausbildung. Die Erste-Hilfe-Ausbildung von Einsatzkräften, die für die NATONorth Atlantic Treaty Organization-Eingreiftruppe VJTFVery High Readiness Joint Task Force geplant sind, geht jedoch noch einen Schritt weiter. Sie werden seit Frühjahr 2022 zusätzlich in psychologischer Kameradenhilfe geschult. Auch die Soldatinnen und Soldaten des Panzergrenadierbataillons 371 in Marienberg durchlaufen derzeit die neue Ausbildung B.E.S.S.E.R.
B.E.S.S.E.R steht für Binden – Einstehen – Sprechen – Stabilisieren – Engagieren – Rückführen und wurde entwickelt, um die Handlungsfähigkeit der Einsatzkräfte in Gefechtssituationen sicherzustellen. Der Hintergrund: Stress ist ein konstanter Begleiter der Einsatzsoldatinnen und -soldaten. Nimmt er deutlich überhand, führt er zu einer akuten Belastungsreaktion. Betroffene Soldatinnen und Soldaten erstarren, sind nicht ansprechbar, können nicht angemessen reagieren. Dies kann die Auftragserfüllung und im schlimmsten Fall auch das Leben der Soldatinnen und Soldaten gefährden.
Wenn die Gefühle das Denken überlagern
Tobias M., Truppenpsychologe der Panzergrenadierbrigade 37 im sächsischen Frankenberg und damit auch für die Marienberger Soldatinnen und Soldaten zuständig, erläutert: „Wird das Gehirn mit einer Situation konfrontiert, die das eigene Erlebensspektrum überschreitet, fehlen diese Erlebnisse als Handlungshilfe.“ Das Gehirn reagiere dann mit Hilfslosigkeit: „Ganz einfach gesagt, Kaffeetrinken gehört zum Alltag, Sprengstoffanschläge nicht.“
Typische Einsatz- und Gefechtssituationen würden zwar regelmäßig in der Truppe geübt. Ein plötzliches Ereignis wie eine Explosion oder auch die schwere Verletzung eines Kameraden könne jedoch auch bei einsatzerfahrenen Soldatinnen und Soldaten eine Überreaktion des Gehirns auslösen. Dann seien emotionale Prozesse nicht mehr zu kontrollieren, Gefühle überlagerten das Denken.
Jede Überreaktion bindet weitere Kräfte
In einer Gefechtssituation kann eine solche psychische Überreaktion zum Ausfall eines gesamten Trupps führen. Denn ein aus psychischen Gründen handlungsunfähiger Soldat wird grundsätzlich wie ein körperlich Verletzter behandelt. Das bedeutet, mindestens ein Soldat versorgt ihn. Erstarrt er in einer Gefahrenzone sind es sogar zwei, die ihn wegtragen. Mindestens ein weiterer Soldat sichert die Kameraden. „Wenn einer ausfällt, kann dies den Auftrag des ganzen Trupps gefährden. Ist dieser eine Soldat der Richtschütze des Panzers, ist nicht nur der Auftrag gefährdet“, betont M. Deshalb sei es wichtig, den Soldaten oder die Soldatin schnell wieder handlungsfähig zu machen.
Die psychologische Kameradenhilfe B.E.S.S.E.R gebe dabei allen Einsatzkräften ein Mittel zur Hand, mit dem sie Betroffenen innerhalb weniger Minuten helfen könnten. Der Ansatz, so M.: „Das denkende Frontalhirn muss die Kontrolle zurückgewinnen.“ Das geschieht in sechs Schritten über Kontaktaufnahme, kurze sachliche Fragen sowie einfache Routineaufgaben, die den Soldaten in seine militärische Rolle zurückführen. „Fragen nach der Gefühlslage helfen dabei ebenso wenig wie Anschreien oder Schütteln“, betont der Psychologe. Beide führten nur zu mehr Emotionalität. Gelingt die Rückführung nicht, werde der Soldat wie ein körperlich Verletzter von den Rettungskräften des Sanitätsdienstes weiterbehandelt.
Selbstwirksamkeit als Schutz vor psychischen Folgen
B.E.S.S.E.R soll in akuten Stresssituationen jedoch nicht nur die Handlungsfähigkeit der Einsatzkräfte und damit die Auftragserfüllung sicherstellen. Ein wesentliches Ziel ist zudem, psychischen Folgestörungen vorzubeugen. Denn die Emotionsüberflutung bei einer akuten Belastungsreaktion führt beim Betroffenen zu einem Gefühl der Hilfslosigkeit und des Scheiterns. Je länger dieses anhalte, desto größer sei das Risiko emotionaler Folgeschäden. „Gelingt es, den betroffenen Soldaten aus seiner Isolation herauszuholen und in seinen Auftrag zurückzuholen, überwindet er das Gefühl der Hilfslosigkeit. Er bewältigt sozusagen das Trauma, bevor es entsteht“, sagt der Truppenpsychologe.
Oberstleutnant Thomas Spranger ist der Kommandeur des Panzergrenadierbataillons 371 und vom Mehrwert der psychischen Ersthelferausbildung überzeugt. Erstarren oder auch Fluchtreflexe in extremen Situationen seien kein Schwächesignal, sondern eine natürliche erste Reaktion auf Gefahr: „Wenn wir unsere Soldatinnen und Soldaten befähigen, dies zu erkennen und damit umzugehen, macht sie das selbstsicherer und selbstwirksamer“, so Spranger.
Dabei sei die Ausbildung für den Mannschaftssoldaten ebenso wichtig wie für den militärischen Führer, für den Helfenden ebenso wie für den Betroffenen: „Das Wissen um psychologische Kameradenhilfe macht nicht nur den stärker, der handeln muss, weil er weiß, wie er helfen kann. Es stärkt auch den, der Hilfe braucht. Weil er weiß, dass er Hilfe bekommt.“ Und, so der Kommandeur, psychologische Kameradenhilfe sollte in die jede Gefechtsausbildung integriert werden. „So können unsere Soldatinnen und Soldaten in Extremsituation besser bestehen und ihren Kampfauftrag erfüllen.“