Im Einsatz versehrt – aber am Leben nicht verzweifelt
Im Einsatz versehrt – aber am Leben nicht verzweifelt
- Datum:
- Ort:
- Warendorf
- Lesedauer:
- 4 MIN
Stabsfeldwebel Jens R.* strebt zum zweiten Mal ins deutsche Aufgebot für die Invictus Games. Hinter ihm liegt eine lange Leidenszeit: Der Unteroffizier wurde 1999 im KFORKosovo Force-Einsatz im Kosovo von einer Tretmine verstümmelt. Auf dem Weg der Rehabilitation halfen ihm seine Familie, seine Leidenschaft zum Sport – und die Therapeuten der Bundeswehr.
Als die erste Tretmine unter dem Fuß seines Zugführers explodierte, zögerte Stabsfeldwebel Jens R. keine Sekunde: „Ich bin ich sofort zurück ins Minenfeld gelaufen, um ihm zu helfen. Es gab nichts zu überlegen. Ich habe einfach funktioniert.“
Das Unglück ereignete sich, als die Luftlandepioniere im Kosovo-Einsatz der NATONorth Atlantic Treaty Organization eine Minensperre an der Grenze zu Albanien räumen wollten. Als R. den verletzten Zugführer in ein Bergetuch heben wollte, machte er einen Schritt zu viel. Eine zweite Tretmine zerfetzte das Bein des damals 23-Jährigen. Er kollabierte. „Ich musste noch am Minenfeld wiederbelebt werden“, sagt R.
Ein Hubschrauber brachte die beiden Schwerverletzten ins Lazarett. „Erst dort bin ich wieder zu mir gekommen. Erinnern kann ich mich an fast nichts. Es sind nur noch Bilder da von Kameraden, die sich über mich beugen und die ganze Zeit sagen: Jens, das wird wieder.“
Nur ein Fuß und nicht das Leben
Anfangs sah es so aus, als seien beide Beine und auch der linke Arm nicht mehr zu retten. „Das nur der linke Unterschenkel amputiert wurde, war fast schon Glück im Unglück“, sagt R. In den ersten sechs Wochen nach dem Unglück wurde der Unteroffizier zehnmal operiert. „Drei Notoperationen waren dabei. Meine Lage war kritisch.“
Nach der Entlassung aus dem Krankenhaus setzte sich seine Leidenszeit fort. „Der Stumpf war nicht stabil. Wenn ich ihn belastet habe, fing er an zu bluten.“ Vier Jahre ging das so, R. musste mehrfach nachoperiert werden. Irgendwann hätten selbst die Schmerzmittel nicht mehr gewirkt. „Ich habe mir immer gesagt: Sei froh, dass du überhaupt noch da bist. Aber ständig gab es Probleme mit meinem Bein. Gehstrecken über mehr als 500 Meter waren ohne Pausen nicht zu schaffen.“ Aus dem fitten jungen Mann wurde ein Stubenhocker von 110 Kilogramm.
Zum Glück hätten ihm seine Frau und seine Eltern in dieser schwierigen Zeit zur Seite gestanden, sagt R. heute. Er kehrte in den Dienst zurück, wurde Berufssoldat und ist heute in einem Versorgungs- und Instandsetzungszentrum der Bundeswehr für die Beschaffung und Verwaltung des Materials verantwortlich.
Warendorf macht alles anders
An den Problemen mit seinem Bein änderte das aber nichts. Doch 2016 wurde der Stabsfeldwebel darauf aufmerksam, dass es eine Gruppe für einsatzgeschädigte Soldaten wie ihn an der Sportschule der Bundeswehr in Warendorf gab. Ärzte, Sporttherapeuten und Prothesentechniker arbeiten zusammen, um Versehrten und Kranken neuen Lebensmut zu geben. Jens R. wurde Teil des Programms. „Mir wurden mehrere neue Prothesen angepasst, mit denen ich endlich wieder gut laufen konnte. Auch Radfahren war wieder möglich.“
Ab dann fuhr R. jedes Jahr für zwei oder drei Wochen zur Rehabilitation nach Warendorf. „Man kann sich komplett auf sich selbst und seinen Körper konzentrieren.“ Der Sport ist wichtiger Teil des therapeutischen Angebots. „Man wird gecoacht und hat ständig einen Arzt im Nacken.“ Diesen positiven Druck habe er gebraucht, so der Stabsfeldwebel.
Krönung des Rehabilitationsprozesses war die Teilnahme an den internationalen Versehrtensportspielen: den Invictus Games. Jens R. wurde 2018 zu den Spielen in Australien eingeladen. Er meldete sich für die Disziplinen Rudern, Bogenschießen und Sitzvolleyball. „Am Ende habe ich sogar an der Schwimmstaffel teilgenommen, dabei war ich nach meiner Amputation 20 Jahre nicht geschwommen. Dann dachte ich mir: Mach es einfach.“
Befreiungsschlag im Schwimmbecken
Zwei Bahnen habe er geschafft, danach sei er erschöpft aus dem Wasser gestiegen. „Ich bin froh, dass ich das gemacht habe: Einfach die Prothese ablegen und losschwimmen. Das war schon ein kleiner Befreiungsschlag für mich.“ Wenn er heute an diesen Moment denke, bekomme er immer noch Gänsehaut. „Ich traf bei den Spielen jede Menge Leute, die das gleiche Schicksal tragen wie ich – und trotzdem niemals aufgeben würden.“ Das sei es, was die Invictus Games ausmache.
R. beschloss nach dieser Erfahrung, auch zu Hause zu trainieren. „Ich habe wieder richtigen Hunger auf Sport bekommen und dachte mir: wenn schon, denn schon.“ In seinem Haus richtete er ein kleines Fitnessstudio ein. Mit Fahrradtrainer und Hantelbank. „Ich versuche, mindestens eine Stunde am Tag Sport zu machen.”
Nach den Spielen in Sydney war Jens R. 2019 bei den Militärischen Weltsportspielen in Wuhan in China dabei, auch an den diesjährigen Invictus Games in Düsseldorf im September wird er als Athlet teilnehmen. Anfeuern werden ihn seine Frau und die vier Kinder, die ihren Vater nach Düsseldorf begleiten.
Die Invictus Games 2023 in Düsseldorf werden voraussichtlich seine letzten Versehrtenspiele sein – jeder Athlet darf nur zweimal mitmachen. Natürlich würde er sich freuen, wenn er bei den Spielen erneut dabei sein könnte, sagt der Stabsfeldwebel. Dafür brauche er aber eine Sondergenehmigung.
Daneben hat der 45-Jährige schon ein neues Projekt in den Blick genommen: Die Teilnahme an einer Extremradtour durch die USA, dem Project Hero, um auf das Schicksal von Kriegsversehrten hinzuweisen. „Das wären für mich rund 500 Kilometer im Sattel“, sagt Jens R. „Da will ich mit meinem Stumpf noch mal kräftig abdrücken.“
*Name zum Schutz des Soldaten abgekürzt.