Ersthelfer-Training für Ukrainer: Leben retten im Gefecht
Ersthelfer-Training für Ukrainer: Leben retten im Gefecht
- Datum:
- Ort:
- Berlin
- Lesedauer:
- 6 MIN
Die EUEuropäische Union hilft der Ukraine in ihrem Abwehrkampf – nicht nur mit Waffen und Gerät, sondern auch mit militärischer Ausbildung. Dazu gehört unter anderem die notfallmedizinische Qualifizierung der Kampftruppen wie das Combat Life Saver Training – eine erweiterte Erste Hilfe, die für verwundete Kameraden im Gefecht lebensrettend sein kann.
Zusammengesunken sitzt der Soldat im Schützengraben. Er hält sich die Schulter - eine Schussverletzung. Der Soldat am Boden neben ihm ist nicht mehr ansprechbar. Er blutet stark aus der Leiste. Kameraden versuchen, die Blutung zu stoppen, kontrollieren Puls und Atemwege, suchen nach weiteren Verwundungen. Die Stimmung ist hektisch, so manchem zittern die Hände.
Doch der Schützengraben ist aus Holzpaletten improvisiert, das Blut kommt aus der Flasche, die Soldaten sind nicht verwundet. Denn das Szenario ist Bestandteil der Ausbildung zum Combat Life Saver – einem Lebensretter im Gefecht. Die übenden Soldatinnen und Soldaten sind aus der Ukraine. Sie werden hier in Deutschland im Rahmen der europäischen Trainingsmission EUMAM UAEuropean Union Military Assistance Mission Ukraine ausgebildet. Dazu wurde in Deutschland das von der Bundeswehr geführte, multinationale Special Training Command (ST-CSpecial Training Command) aufgestellt, das die bundesweiten Trainings plant und koordiniert.
Unter den kritischen Augen von deutschen und niederländischen Soldatinnen und Soldaten üben die Ukrainerinnen und Ukrainer Techniken und Maßnahmen der erweiterten Ersten Hilfe – in sieben verschiedenen Szenarien, mit simulierten Verbrennungen, Schnitt- und Schusswunden, Schocksymptomen und mehr, zehn Stunden lang bis in die Nacht hinein. Denn der heutige Tag dient dazu, die in der vergangenen Woche erlernten Inhalte zu überprüfen: einsatznah und unter Stress.
„Nur wenn wir wissen, dass die Ausbildungsteilnehmenden das erlernte Wissen auch unter Belastung automatisiert abrufen und immer wieder anwenden können, haben wir unser Ziel erreicht: Sie können Leben retten“, sagt Oberstabsfeldwebel Peter I. Er leitet die sanitätsdienstliche Ausbildung der ukrainischen Streitkräfte im Rahmen von ST-CSpecial Training Command. Dazu zählen neben der Combat Life Saver-Ausbildung zukünftig auch die Lehrgänge zum Combat Medic (Einsatzsanitäter) und Combat Paramedic (Einsatznotfallsanitäter).
Andrej: „Wir müssen alles tun, um bereit zu sein“
Medizinische Vorerfahrung haben die wenigsten der ukrainischen Soldatinnen und Soldaten im Lehrgang. Denn sie sind keine Sanitäter, sondern stammen aus Kampftruppen und Heimatschutzeinheiten der ukrainischen Streitkräfte. Manche stehen schon seit Kriegsbeginn im Gefecht, andere sind erst seit wenigen Monaten Soldat und haben gerade erst ihre Basisausbildung abgeschlossen.
Allen gemeinsam ist ihre Motivation: „Wir konnten uns auf diesen Krieg nicht vorbereiten. Wir wollten ihn nicht. Doch jetzt müssen wir alles tun, um bereit zu sein. Wenn unsere Kameraden verwundet werden, müssen wir in der Lage sein, ihnen zu helfen“, sagt Leutnant Andrej, der von sich selbst sagt, er sei kein Soldat, sondern im Herzen Zivilist. Aber es gebe keine Alternative dazu, sein Heimatland mit der Waffe in der Hand zu verteidigen: „Wir wollen weiter frei sein, unsere eigenen Entscheidungen zu treffen. Das geht nicht, wenn Russland gewinnt.“
Tatjana, eine junge ukrainische Soldatin, sagt: „Ich wusste nichts über Medizin, als ich hierherkam. Aber jetzt weiß ich, was ich tun muss.“ Sie ergänzt: „Ich fühle mich willkommen. Die Menschen hier wollen uns helfen, der Ukraine helfen. Das ist ein gutes Gefühl. Wir sind nicht allein in diesem Krieg.“
Praxisausbildung: Angepasst an die Kriegserfahrungen
Das Combat Life Saver Training stammt ursprünglich aus den USUnited States-amerikanischen Streitkräften und wird auch in europäischen NATONorth Atlantic Treaty Organization-Staaten genutzt. Für die Bedürfnisse der ukrainischen Soldatinnen und Soldaten wurde es angepasst und von acht auf zehn Tage verlängert. „Wir haben die Praxisanteile erhöht und ein zusätzliches Lagen- und Handlungstraining ergänzt“, erklärt Oberstabsfeldwebel I.
Sie wissen genau: Was sie nicht können, kostet das Leben ihrer Kameraden.
Denn die Einsatzrealität im Ukrainekrieg unterscheide sich maßgeblich von den Standards, die westliche Nationen in ihren Auslandeinsätzen im Krisen- und Konfliktmanagement ansetzten. I. sagt: „Bis die Verwundeten qualifiziert notfallmedizinisch versorgt werden können, müssen in der Ukraine zum Teil große Strecken zurückgelegt werden. Die Anforderungen an die Kameradenhilfe sind daher weitaus höher.“ Zum Teil vergingen bis zu 24 Stunden bis zur ersten sanitätsdienstlichen Versorgung, so die Berichte früherer Ausbildungsteilnehmer. „Care under Fire und Prolonged Field Care – also Erstversorgung im Gefecht sowie die fortdauernde Verwundetenversorgung ohne sanitätsdienstliche Unterstützung – nimmt für die Ukrainer einen anderen Stellenwert ein. Sie wissen genau: Was sie nicht können, kostet das Leben ihrer Kameraden“, so I. Denn die Ressourcen für eine engmaschigere sanitätsdienstliche Versorgung seien nicht vorhanden.
Vor ihrer Abreise erhalten alle Teilnehmerinnen und Teilnehmer daher ihr eigenes Erste-Hilfe-Set. 1.000 Stück hat der niederländische Sanitätsdienst dafür bereitgestellt. „Die ukrainischen Streitkräfte erhalten Sanitätsmaterial von verschiedenen Nationen. Doch der Verbrauch ist hoch. Es besteht immer die Möglichkeit, dass improvisiert werden muss“, sagt der Stabsfeldwebel. Deswegen werde auch unterrichtet, was die Soldaten nutzen können, wenn Material fehlt: „Wenn ich kein Tourniquet zum Abbinden habe, nehme ich das Halstuch oder den Gürtel. Wenn Tamponage fehlt, stecke ich erstmal den Finger in die Schusswunde.“
Fünf Sprachen zugleich: Nichts geht ohne Sprachmittler
Rund 70 deutsche Soldatinnen und Soldaten aus allen Bereichen des Sanitätsdienstes der Bundeswehr sind in die Ausbildung und Betreuung der ukrainischen Kräfte involviert. Unterstützt werden sie von drei niederländischen Kameraden, die ebenfalls als Ausbilder vor Ort sind. Doch das bedeutet: Die Sprachmittlerinnen und Sprachmittler übersetzen nicht nur vom Deutschen ins Ukrainische, sondern regelmäßig muss der Umweg vom Niederländischen übers Englische zu Russisch oder Ukrainisch genommen werden. „Die Sprachbarriere führt zu zeitlichen Verzögerungen in der Ausbildung. Fragen und Antworten müssen erst übersetzt werden. Aber nach einigen Tagen wird es immer besser“, erklärt Sergeant First Class Geerd H., der auch in den niederländischen Streitkräften Combat Life Savers ausbildet. Das liege auch an der Motivation der Ukrainerinnen und Ukrainer, möglichst schnell möglichst viel zu lernen: „Für sie ist es nicht nur ein Lehrgang von vielen. Sie wissen, warum sie das brauchen.“
Die Übersetzerinnen und Übersetzen dolmetschen nicht hauptberuflich. Normalerweise arbeiten sie im Geschäftszimmer, unterstützen den Truppenarzt, verwalten Material oder sind Kraftfahrer. Jetzt übersetzen sie zehn Stunden täglich simultan. „Das ist unglaublich anstrengend. Aber es ist ein gutes Gefühl, helfen zu können“, sagt Stabsunteroffizier Julia J. Und oft geht es auch nach Dienstschluss weiter. „Wenn einer eine Postkarte und Briefmarken für seine Frau braucht, unterstützt man natürlich.“ Ihre Kameradin ergänzt: „Es ist schwer, Distanz zu wahren. Man selbst fährt nach Hause und weiß, dass die Menschen, mit denen man zwei Wochen eng im Team gearbeitet hat, sich in Gefahr begeben.“
Drill schafft Handlungssicherheit und Selbstvertrauen
Ziel der Combat Life Saver-Ausbildung ist, so viel Handlungssicherheit in medizinischen Grundlagentechniken zu vermitteln, dass die ukrainischen Soldatinnen und Soldaten Verwundete auch über einen längeren Zeitraum am Leben halten können. Deswegen wird jede Übung mit jedem Teilnehmenden so lange wiederholt, bis sie wirklich sitzt. „Drill spielt eine große Rolle, nur so werden Behandlungsschemata wirklich verinnerlicht“, sagt Oberstabsfeldwebel I.
Auch Hauptfeldwebel Jessica V. beobachtet genau und korrigiert immer wieder. Sie will Selbstvertrauen in die eigenen Fähigkeiten vermitteln. „Wer Angst hat, etwas falsch zu machen, zögert. Zögern kosten Menschenleben.“ In einem vorherigen Ausbildungsgang für die ukrainischen Streitkräfte hat sie die tiefe Verzweiflung erlebt, die Schuldgefühle, wenn die Soldatinnen und Soldaten von Kameraden berichten, denen sie nicht helfen konnten, weil sie nicht wussten wie: „Da ist es kaum möglich, die richtigen Worte zu finden. Man kann nur sagen: Deswegen seid ihr hier. Jetzt könnt ihr helfen.“