Beschaffung in der Zeitenwende

Im Wettlauf mit der Zeit: Der Beschaffungsprozess der Bundeswehr

Der russische Überfall auf die Ukraine vor zwei Jahren löste eine sicherheitspolitische Zeitenwende in Deutschland aus. Die Ertüchtigung der Bundeswehr für die Landes- und Bündnisverteidigung hat seither erste Priorität. Ein Sondervermögen ermöglicht Rüstungsinvestitionen in großem Maßstab. Wie funktioniert der Beschaffungsprozess?

Kampfflugzeuge vom Typ Eurofighter und F-35 fliegen in Formation

Verteidigungsfähigkeit und Kriegstüchtigkeit – um diese Begriffe dreht sich bei der Bundeswehr seit rund zwei Jahren fast alles. Der russische Krieg gegen die Ukraine führte den Verantwortlichen vor Augen, dass die Gefahr eines Angriffes auf das europäische Kernland ein reales Risiko ist.

Nach dem Ende des Kalten Krieges wurden Investitionen in militärisches Gerät und Ausrüstung häufig aufgeschoben. Nun hat sich durch den Krieg in Osteuropa die Einsicht durchgesetzt, dass Militärausgaben Investitionen in die Sicherheit und damit in die Daseinsvorsorge eines Staates darstellen.

Tagesbefehl „Beschleunigung des Beschaffungswesens“ des Verteidigungsministers vom 26. April 2023
Der völkerrechtswidrige Angriffskrieg Russlands gegen die Ukraine hat gezeigt, wie wichtig es für Deutschland und seine Verbündeten ist, über einsatzbereite Streitkräfte zu verfügen. Um die benötigte Ausrüstung schnell und in der erforderlichen Qualität und Quantität in die Truppe zu bringen, ist die Verbesserung und Beschleunigung des Beschaffungswesens von herausragender Bedeutung.

Sondervermögen und Rekord-Etat

Durch die Gewährung eines Sondervermögens in Höhe von 100 Milliarden Euro wurde die Bundeswehr in die Lage versetzt, lange fällige Einkäufe zu tätigen und Material zu ersetzen, das nach Beginn des Krieges an die Ukraine abgegeben wurde.

Zusammen mit einem Verteidigungshaushalt von knapp 52 Milliarden Euro für 2024 stehen damit mehr als zwei Prozent des Bruttoinlandsproduktes für die Streitkräfte zur Verfügung. Deutschland erreicht damit wie schon 2023 das sogenannte Zwei Prozent-NATONorth Atlantic Treaty Organization-Ziel, zu dem sich auch Kanzler Olaf Scholz wiederholt bekannt hatte.

Im Eilverfahren soll nun der jahrzehntelange Investitionsstau in den Streitkräften aufgelöst werden: durch den Kauf marktverfügbarer Waffensysteme, durch die stärkere Einbindung der Truppe beim Kauf neuen Materials und durch die Beschleunigung der Beschaffungsprozesse.

Nachgefragt

Zeitenwende in der Beschaffung

Wie geht es voran?

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Beschaffungsverfahren beschleunigt

Oberste Priorität im Verteidigungsministerium hat der Faktor Zeit. Schon im Juli 2022 hatte der Bundestag ein Gesetz zur Beschleunigung der Beschaffungsprozesse in den Streitkräften beschlossen, um Aufträge schneller und leichter vergeben zu können. Am Beschaffungsprozess beteiligt sind nämlich nicht nur das Verteidigungsministerium, das Planungsamt der Bundeswehr und die Bedarfsträger in den Teilstreitkräften und Organisationsbereichen der Bundeswehr, sondern auch das Parlament und die Rüstungsindustrie. Auch das europäische Vergaberecht spielt eine Rolle, wenn das Bundesamt für Ausrüstung, Informationstechnik und Nutzung der Bundeswehr – kurz BAAINBwBundesamt für Ausrüstung, Informationstechnik und Nutzung der Bundeswehr – zur Tat schreitet. 

Beschaffung Schritt für Schritt

Um die Soldatinnen und Soldaten der Bundeswehr mit Rüstungsgütern zu versorgen, arbeiten viele Akteure in den Streitkräften zusammen. Wir vollziehen den Beschaffungsprozess in den Streitkräften Schritt für Schritt nach: Von der Feststellung des Bedarfs über die Vergabe an die Rüstungsindustrie bis hin zur Einführung in die Truppe und den Erhalt der Einsatzreife.

Eine Grafik zeigt den Beschaffungsprozess von Rüstungsgütern bei der Bundeswehr

Der Faktor Zeit entscheidet: Die Bundeswehr hat ihren Beschaffungsprozess gestrafft und beschleunigt, um den sicherheitspolitischen Veränderungen in der Zeitenwende zu entsprechen. Die Streitkräfte sollen so schnell wie möglich kriegstüchtig werden.

Bundeswehr | Grafik: Astrid Höffling

Erste und wichtigste Regel im Beschaffungsprozess: Die Bundeswehr kauft nur Material, das für die Landes- und Bündnisverteidigung oder für ihre Aufträge im Ausland benötigt wird. Grundlage für die Feststellung der Rüstungsbedarfe ist das Fähigkeitsprofil der Bundeswehr.

Im Fähigkeitsprofil werden die personellen und materiellen Bedarfe zusammengefasst, die zur Erfüllung der Vorgaben aus der Politik und den NATONorth Atlantic Treaty Organization-Verpflichtungen benötigt werden. „Von dem, was wir können sollen, ziehen wir das ab, was wir schon haben. Was übrig bleibt, wird dann beschafft“, sagt Oberstleutnant Frederik H. vom Planungs- und Führungsstab im Verteidigungsministerium. „Wir priorisieren dabei stets nach Wichtigkeit, streben aber eine Vollausstattung der Bundeswehr an.“ Alternativ könne auch die Truppe die Initiative ergreifen und Bedarfe direkt an das Planungsamt der Bundeswehr melden, so der Offizier. 

Das Planungsamt prüft dann, ob der gemeldete Bedarf tatsächlich besteht und auf welchem Weg er gedeckt werden kann: Vielleicht können die Bundeswehr-Dienstleister Abhilfe schaffen oder das benötigte Produkt ist sogar auf dem zivilen Markt frei erhältlich. „Ein Rüstungsprojekt wird nur gestartet, wenn wir kein milderes Mittel finden, um den Bedarf zu decken“, sagt Oberstleutnant H.

Dafür wird dann ein integriertes Projektteam aus Rüstungsexperten, Planern und den späteren Nutzern aus der Truppe gebildet. Das IPTIntegriertes Projektteam beurteilt, wie das Projekt umgesetzt werden kann. Reicht eine Modernisierung bestehender Systeme aus, oder gibt es am Rüstungsmarkt eine bewährte und verfügbare Lösung? Falls beides nicht zutrifft, muss über eine Neuentwicklung mit den europäischen Partnern nachgedacht werden – diese Entscheidung obliegt aber dem Verteidigungsministerium.

„Wir arbeiten normalerweise marktorientiert, setzen also auf bereits fertig entwickelte Produkte“, sagt Oberstleutnant H. Ziel sei, innerhalb von sechs Monaten einen Entscheidungsvorschlag mit den geschätzten Kosten zu erarbeiten. Nur bei Schlüsseltechnologien werde auf Eigenentwicklungen gesetzt. „Das machen wir zum Beispiel, um eine technologische Überlegenheit auf dem Gefechtsfeld sicherzustellen“, sagt der Leitende Technische Regierungsdirektor Christian W., im BAAINBwBundesamt für Ausrüstung, Informationstechnik und Nutzung der Bundeswehr zuständig für die projektbezogene Bedarfsdeckung. „Dann kann die Erarbeitung des Bedarfs, der genauen Fähigkeitsforderungen und eines darauf abgestimmten Lösungsvorschlages aber auch mal länger als sechs Monate dauern.“

In vier von fünf Fällen wird die Beschaffungsentscheidung vom Chef des Planungsamtes oder dem Leiter der Planungsabteilung im Ministerium gefällt. Die Ausnahme bilden besonders wichtige Rüstungsvorhaben. Sie werden vom Generalinspekteur der Bundeswehr entschieden. „Das sind meistens politisch besonders bedeutsame Projekte“, sagt Oberstleutnant H.  – wie zum Beispiel die Beschaffung der F35-Kampfjets aus USUnited States-Produktion, um die nukleare Teilhabe Deutschlands in der NATONorth Atlantic Treaty Organization zu sichern.

Wird der Lösungsvorschlag des IPTIntegriertes Projektteam gebilligt, fertigt das BAAINBwBundesamt für Ausrüstung, Informationstechnik und Nutzung der Bundeswehr eine funktionale Leistungsbeschreibung mit den geforderten technischen Leistungswerten an. „Es geht darum, vollständig und eindeutig zu beschreiben, was das Produkt können muss“, sagt W. „Zum Beispiel fordern wir, dass ein Fahrzeug ein Gewässer bis zu einer bestimmten Tiefe unbeschadet durchqueren können muss. Wie die Industrie das umsetzt, stellen wir frei.“

Anschließend prüft der Inspekteur der betroffenen Teilstreitkraft, ob die Leistungsbeschreibung und der tatsächliche Bedarf übereinstimmen. Ist dies der Fall, wird das Vergabeverfahren eingeleitet. Es unterliegt dem europäischen Vergaberecht, wodurch der freie Zugang zu öffentlichen Aufträgen der EUEuropäische Union-Mitgliedstaaten für Unternehmen sichergestellt wird. Nach der öffentlichen Ausschreibung erstellen die Unternehmen ein Angebot. „Das kann einige Wochen bis Monate in Anspruch nehmen, bei besonders komplexen Projekten auch mehr“, so W.

Anschließend werden die Angebote verglichen. „Wir müssen wissen, welche Produkte unserem Bedarf entsprechen“, sagt Oberstleutnant H. Den Zuschlag erhält das Unternehmen mit dem wirtschaftlichsten Angebot. „Dabei entscheidet nicht alleine der Preis, sondern die Summe aller Leistungsfaktoren“, so H. weiter. Am Ende werde das Angebot mit dem besten Verhältnis von Kosten und Nutzen ausgewählt.

Unterlegene Bieter haben die Möglichkeit, auf dem Rechtsweg gegen eine Vergabeentscheidung vorzugehen – entweder per Rüge oder per Klage. Das ist ein Grund dafür, warum sich die Beschaffungsprozesse in der Vergangenheit mitunter hingezogen haben. „Insbesondere in den letzten Jahren waren die Klagen aber nur sehr selten erfolgreich“, sagt W.

Ist die Entscheidung für ein Angebot gefallen, muss der Bundestag die Investition billigen. Die gesonderte Zustimmung der Volksvertretenden ist bei Verträgen mit einem Volumen von 25 Millionen Euro oder mehr erforderlich. Erst wenn die Abgeordneten aus dem Haushaltsausschuss ihr Okay zu diesen „25-Millionen-Euro-Vorlagen“ gegeben haben, können die Verträge unterschrieben werden. Im Jahr 2023 zum Beispiel wurden 55 dieser Vorlagen mit einem Gesamtvolumen von 47 Milliarden Euro auf den Weg gebracht – so viele wie noch nie zuvor binnen eines Jahres. Rüstungsverträge im Umfang von weniger als 25 Millionen Euro können auch ohne Vorlage im Parlament durch das BAAINBwBundesamt für Ausrüstung, Informationstechnik und Nutzung der Bundeswehr vergeben werden.

Die Produktion eines Rüstungsgutes kann je nach seiner Komplexität und der Auftragslage des beauftragten Rüstungsunternehmens mehrere Jahre in Anspruch nehmen. Ein Kriegsschiff wie die neue Fregatte F126 der Marine etwa hat eine geplante Bauzeit von fünf Jahren.

Der Produktionsprozess wird durch das Qualitätsmanagement des BAAINBwBundesamt für Ausrüstung, Informationstechnik und Nutzung der Bundeswehr begleitet. Sobald das Produkt fertig ist, wird es seitens der BAAINBwBundesamt für Ausrüstung, Informationstechnik und Nutzung der Bundeswehr-Experten auf Vertragskonformität geprüft: Hält das bestellte Rüstungsgut die Vorgaben ein, die in der Leistungsbeschreibung gefordert waren? Auch die Truppe wird gefragt, wie sich das Produkt im Feld bewährt: Funktioniert es wie erwartet, oder treten bei der Erprobung Mängel auf? Erst wenn alle Anforderungen erfüllt sind, erteilt das BAAINBwBundesamt für Ausrüstung, Informationstechnik und Nutzung der Bundeswehr die finale Genehmigung zur Nutzung des Rüstungsgutes. Damit ist die Bahn frei für die Einführung in die Truppe.

Mit der Genehmigung zur Nutzung wird auch die sogenannte Einsatzreife des Rüstungsgutes bestätigt. Hierzu gehören unter anderem die erforderlichen Zulassungen und Akkreditierungen für das Rüstungsgut und die Ausbildung des Bedien- und Instandsetzungspersonals.

Auch die Versorgung mit passenden Ersatzteilen, das Vorhalten von Instandsetzungskapazitäten und die Modernisierung des Rüstungsgutes sind Aufgaben des BAAINBwBundesamt für Ausrüstung, Informationstechnik und Nutzung der Bundeswehr – und das für die gesamte Zeit, in der ein Rüstungsgut in den Streitkräften genutzt wird. „Wir gewährleisten die Betreuung des Produkts über seinen gesamten Lebenszyklus hinweg“, sagt W. Und der kann bei Kampfjets, Panzerfahrzeugen oder Fregatten häufig mehrere Jahrzehnte umfassen.